Agile Coaches und Scrum Master: Nein, Team und Wert-Diskussionen sind nicht unsere Hauptaufgabe
Zugegeben, das ist ein heißer Take, aber gib mir ein paar Minuten, um dich zu überzeugen.
Wenn man Scrum Master oder Agile Coaches fragt, was ihre Hauptaufgabe ist, dann bekommt man eher häufiger als seltener die folgenden Antworten:
- Dafür sorgen, dass Scrum-Events eingehalten werden
- Das Team in die Verantwortung nehmen
- Dafür sorgen, dass dem Team mehr vertraut wird
- Dafür sorgen, dass das Team happy ist
- Den Produkt-Owner unterstützen, gute Stories zu schreiben
- Wert-Diskussionen mit den Stakeholdern führen
- Die Agilität des Teams/der Abteilung/des Unternehmens verbessern
Mir kräuseln sich dann immer ein wenig die Nackenhaare. Nicht, weil das alles falsch wäre, sondern weil – zumindest aus meiner Sicht – das Allerwichtigste häufig nicht genannt wird:
Die wichtigste Aufgabe eines Agile Coachs oder Scrum Masters ist das Etablieren und Aufrechterhalten des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses.
Wenn ich als Scrum Master oder Agiler Coach Agilität fördern will, dann sprechen wir nicht vom Etablieren von Prozessen, Frameworks und Zeremonien – es geht hier um die schnelle und flexible Anpassungsfähigkeit an neue Erkenntnisse und Situationen.
Frameworks, Zeremonien und der Fokus auf ein glückliches Team können dabei helfen, müssen aber nicht.
Wenn ich nun einen Verbesserungsprozess etablieren möchte, dann muss ich mir erst einmal die Frage stellen, was ich denn überhaupt erreichen möchte… Nur dann kann ich sinnvoll Hypothesen formulieren oder Maßnahmen ergreifen.
Und Achtung: Ich muss in der Lage sein, einigermaßen objektiv (!) feststellen zu können, ob die Maßnahmen Erfolg zeigen! Wenn nicht, muss ich gegenregeln… Inspect & Adapt halt…
Und wer die Nachtigall jetzt noch nicht trapsen hört: Ich spreche über Metriken!
Wenn ich beispielsweise das Ziel habe, dass wir verlässlicher liefern, dann kann ich die Hypothese haben, dass ich nur mehr Arbeit in eine gute Teamstimmung investieren muss. Doch wenn ich vorher nicht gemessen habe, kann ich auch danach nicht sagen, ob’s geholfen hat.
Erst messen und dann bewerten: Klingt irgendwie zu trivial?
Nee, ist es nicht… ganz im Gegenteil.
Ich kann gar nicht genug unterstreichen, wie wichtig das ist – und wie sehr ich mir wünschen würde, dass das mehr in den Fokus rückt. Teams oder Organisationen, die nicht ernsthaft auf Metriken schauen, fliegen nur nach Gefühl – und das trügt leider viel zu häufig.
Unser Cognitive Bias ist schuld, dass wir selbstverständlich davon ausgehen, schon gut genug unterwegs zu sein. Zudem glauben wir Menschen, die das ebenso sehen, eher, als den dauernden Warnern. Schließlich sind wir Experten und wir sind gut in unserem Job!
Sprich: Wir sind auf einem (dem realistischen) Auge mitunter ziemlich blind. Als Konsequenz tendieren Menschen, Teams und Organisationen dazu, ihre erlernten Strategien immer wieder anzuwenden – zumindest so lange, bis es einmal so richtig vor die Wand fährt.
Oft brauchen wir es erst schwarz auf weiß, bevor wir erkennen, dass wir wirklich ein Problem haben. Und da unser Bauch uns eher (sehr viel) später als früher anzeigt, dass wir komplett neben der Schiene laufen, brauchen wir etwas Objektives: Metriken.
Andernfalls kommt es bei ersten Anzeichen von Problemen zunächst eher zu einem verstärkten „mehr von dem, was bisher gut funktioniert hat” .
Zu abstrakt? Hier ein paar Beispiele:
Ohne Messung kein Plan: Kommen euch diese Situationen bekannt vor?
Erst absagen, wenn die Deadline gerissen ist. Kein Forecasting, kein Plan
Entwickler und Product-Owner haben bis zwei Monate vor dem Release-Termin die Hoffnung, dass es noch klappt und bis zur Erschöpfung Überstunden geschoben (mehr und härter arbeiten). Dann wird doch die weiße Fahne gehisst mit der Ansage: Wir brauchen 6 Monate länger. Die Gedanken der Stakeholderin dazu: „Wenn die vor zwei Monaten noch nicht wussten, dass sie es nicht schaffen, wie kann ich der neuen Prognose ,in 6 Monaten‘ trauen?”
Initiativenfeuer aus den Fachbereichen: Viel hilft viel?
Die Fachbereiche starten mehrere Initiativen parallel. Der Gedanke: Dadurch generieren wir mehr Kundenwert (und natürlich Umsatz). Dabei ist ihnen nicht klar, dass das die Organisation überfordert und sich damit die Lieferfähigkeit reduziert (Little’s Law). Und wenn’s nicht schnell genug läuft, wird eben mit noch mehr Initiativen reagiert. Möööp…
Das Controlling erst starten, wenn es eng wird: Dafür dann umso enger und strenger…
Es läuft holprig, aber der Druck ist groß – also was liegt da aus Sicht des Managements näher, als mehr Kontrolle in das System zu bringen… Das mit dem C.. Controlling und Reporting. Und tägliche Statusmeetings.
Fun-fact: Im Prinzip ist das der Versuch, zu einem viel zu späten Zeitpunkt die Objektivität herzustellen, die von Anfang an gefehlt hat… Aber sonst hat das ja auch immer geholfen, also mehr davon! Jetzt klaut es aber die Zeit der Leute, die eigentlich das Problem beheben könnten.
Erfolgreich gepushte Themen gewinnen! Oder ist der wirtschaftliche Wert unterm Strich am Ende doch negativ?
Das Top-Management ernennt für jedes seiner Themen einen eigenen Projektleiter, der die Organisation hart pusht, um ein spezielles Thema durchzubringen. Wenn es klappt, machen wir’s beim nächsten Mal wieder so. Aus Sicht des Top-Managements war es ja ein Erfolg! Und wenn’s hakt, erhöhen wir den Druck. … Dass dadurch aber vielleicht viel mehr wirtschaftlicher Schaden für das Unternehmen an anderer Stelle entstanden ist, ist nicht transparent.
Zudem problematisch: Häufig geht’s dabei um Maßnahmen, die entweder
- dann alles noch schlimmer und frustrierender machen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, oder
- Themen mit dem Breitschwert und ohne Blick auf die Auswirkungen pushen (Stichwort „lokale Optimierung”) mit der Konsequenz, dass die Gesamtproduktivität noch weiter sinkt.
In Produktteams kondensieren die Probleme der Organisation wie an keinem anderen Ort
There are no bad people… Ja genau – aber trotzdem ist es ein ewiger Kampf. Es wird immer über die anderen geschimpft… die Entwickler sind einfach mal wieder zu langsam, die brauchen mal mehr Druck; der Fachbereich ist aus Sicht der Teams komplett konfus und stimmt konkurrierende Prios nicht untereinander ab und das Top-Management macht eh, was es will… und dann kommt auch noch der Agile Coach mit „Team-Themen”… Originalzitat: „Wenn du als Coach jetzt noch immer Retros machst, dann hast du den Ernst der Lage offensichtlich noch nicht verstanden”.
Ich halte es da lieber mit Konfuzius: „Wenn du schnell sein willst, geh langsam.”
Wer solche Situationen nicht kennt, mag mir einen Kommentar schreiben! 🙂
Das Bittere daran ist, dass am Ende alle auf das Produktteam schauen, weil die Probleme der gesamten Organisation genau dort kondensieren. Niemand erkennt mehr Ursache und Wirkung. Und ehrlich gesagt ist das auch nur menschlich: Je weiter wir von dem Ort oder Zeitpunkt weg sind, an dem sich die Konsequenzen unseres Tuns manifestieren, umso weniger verstehen wir die Wirkzusammenhänge.
Feedback-Zyklen müssen her… aber eben mit Metriken untermauert und nicht mit Wahrnehmungen oder pauschalen Aussagen. Sonst steht am Ende Wahrnehmung gegen Wahrnehmung. Und schwuppdiwupp sind wir wieder ad-hominem unterwegs, d.h. wir fangen an, auf andere zu zeigen und Schuldige zu suchen.
Vor allem müssen wir Probleme früher erkennen und nicht versuchen, am Ende panisch das zu retten, was nicht mehr zu retten ist.
Daher ist die Objektivierung bzw. Messbarkeit von dem, was wir tun, aus meiner Sicht die absolute Grundvoraussetzung für jegliche Agilisierungsbemühung.
Wenn man in einem komplexen Umfeld unterwegs ist (siehe Stacey-Matrix), dann liegt es in der Natur der Sache, dass Glauben und Überzeugungen alleine schlechte Berater sind.
Daher ist es zwingend nötig, eine gemeinsame, objektive Faktenbasis zu haben. Wir können uns gerne über den nächsten Schritt streiten, aber wir sollten alle von derselben Faktenlage ausgehen.
Metriken als Powertool
Wie wirksam ein Inspect & Adapt basierend auf Metriken sein kann, sei hier mal am Beispiel von Continuous Forecasting illustriert.
Wenn ich zum Beispiel regelmäßig Throughput messe und mein Backlog gut organisiert habe, kann ich mit Hilfe von linearen Forecasts oder noch besser Monte-Carlo-Simulationen frühzeitig feststellen, wie hoch die Chance ist, dass wir den zuvor zugesagten Zeitplan halten… oder wie dieser überhaupt aussehen könnte. (Wer damit arbeiten möchte, dem empfehle ich an dieser Stelle den Team-Forecaster, hier kostenlos samt Anleitung zum Download.)
Verschiebungen oder Scope-Cuts sind in der Realität immer unschön. Was die meisten Menschen jedoch in den Wahnsinn treibt, ist, wenn sie davon erfahren, wenn es nichts mehr zu retten gibt. Je früher ich erkenne, dass es eng wird, desto mehr können alle (Team, Führungskräfte, Fachbereiche) die Köpfe zusammenstecken, um zu erörtern, welche Optionen es gibt.
Merkst du, was hier passiert? Anstatt in einer ausweglosen Situation, in der alle schlecht aussehen, einen Schuldigen zu suchen (Team, PO, etc.), haben wir die Chance, ein mögliches Risiko zu mitigieren. Wir verlagern (schöner Coaching-Sprech) die Orientierung der Diskussion vom Problem auf die Lösungsfindung. Das schafft Optionen.
Und mag die Erkenntnis über realistische Zeitpläne auch bitter sein: Ist sie erst einmal da, gibt es oft genug positive (den Umständen entsprechend) Rückmeldung. Denn jetzt ist das, was man eh schon befürchtet hatte, endlich bekannt und damit fassbar – und möglicherweise noch positiv beeinflussbar.
Power is nothing without control
Hinzu kommt, dass Metriken dem Team schon viel früher im Verlauf dabei helfen, nicht blind zu fliegen. Ich habe schon soooo oft erlebt, wie das Wissen darüber, wo man wirklich steht, Teams einen regelrechten Boost gibt. Wenn man von dir erwartet, dass du mit 200 km/h über die Autobahn fährst („High-Performance-Teams”, args!), ist es halt deutlich angenehmer, wenn man weiter als nur 20 Meter schauen kann… So können heute schon Richtungsänderungen initiiert werden, die einen möglichen schmerzhaften Aufschlag übermorgen verhindern.
Es gibt nichts, was mehr Vertrauen im Team und zum Team schafft, als Verlässlichkeit und konstruktiver, früher Umgang mit möglichen Risiken.
Wenn du als Scrum Master oder Coach also das Team mehr in Verantwortung bringen möchtest, dann baue das Inspect & Adapt metrikenbasiert auf und mache Continuous Forecasts. Das Team wird es dir danken!
Man soll zudem gar nicht glauben, wie sehr es das Wohlbefinden erhöht, wenn das Team das Gefühl hat, seinen Hometurf richtig (messbar) unter Kontrolle zu haben. 🙂
Hilfe, unsere Leistungsfähigkeit ist endlich!
Ein weiterer Aspekt ist, dass uns Continuous Forecasting dabei unterstützt, Priorisierungsdiskussionen zu führen.
Häufig läuft es doch so: Mehrere Stakeholder mit unterschiedlichen Zielen zerren an PO und Team. Das kann eine extreme Belastung sein.
Sollte es nicht eigentlich so sein, dass die Organisation sich vorab übergreifend Gedanken darüber macht, wie Themen zueinander priorisiert sind?
Das passiert aber eher selten. Außer, man hilft ein wenig nach…
Der Gedanke dabei ist einfach: Stell dir mal vor, du könntest jederzeit in Sekundenschnelle eine Aussage darüber treffen, was die Höherpriorisierung eines Features für die Timeline der anderen Features bedeutet… Dann kannst du als PO einfach alle „konkurrierenden” Stakeholder zu einem Termin einladen und mit ihnen einmal verschiedene Reihenfolgen durchspielen.
Natürlich werden sie nicht erfreut sein, dass ihr eigenes Feature plötzlich mit anderen in Konkurrenz steht, aber das erzwingt eine Diskussion über (Achtung!!!) den Wert der einzelnen Features. Die Realität kann manchmal echt unangenehm sein. 🙂
Und zack – haben Metriken schon wieder dazu geführt, dass eine weitere Gruppe von Menschen erkannt hat (Inspect), dass die bisherigen Strategien nicht mehr funktionieren. Dann kann die Anpassung stattfinden (Adapt).
Ja genau, wir brauchen als Scrum Master und Agile Coaches gar keine ausufernde Diskussion über Wert in der Organisation führen, bevor diese nicht verstanden (gesehen) hat, dass die Leistungsfähigkeit des Systems begrenzt ist.
Die Diskussion über Wert kommt automatisch, wenn offensichtlich ist, dass nicht alles auf einmal geht.
Zugegeben, dort hinzukommen ist nicht einfach und manchmal schmerzhaft, aber hey, wir sind ja nicht als Feelgood-ManagerInnen angestellt, richtig?
Wenn ihr noch weitere Anregungen rund um Messbarkeit und Transparenz sucht, schaut doch mal hier vorbei:
Wie wir mit Kanban Workflow sichtbar machen und Verluste durch Überlast verhindern (von Daniel Westermayr)
Warum Story Points nicht geeignet sind, um Releasedaten vorherzusagen (von Simon Flossmann)
Funktioniert Scrum in deinem Unternehmen? So kannst du den Nutzen von Scrum messen (von Simon Flossmann)
Schätzen in der Produktentwicklung: So spart ihr viel Zeit mit der 3-Eimer-Schätzung (von Pascal Gugenberger)
Messen in der Produktentwicklung: Wie wir Annahmen und Hoffnung durch Wissen ersetzen (von Bastian Kröckel)
Mein Fazit: Ein systematischer Verbesserungsprozess muss das Ziel sein!
Ein gut funktionierender, systematischer Verbesserungsprozess, welcher durch Metriken unterstützt wird, ist die absolute Basis für nachhaltige Veränderungen.
Als Scrum Master oder agiler Coach ist es nicht primär unser Ziel, Menschen dazu anzuleiten, Arbeitsabläufe oder Konzepte zu erlernen – das hilft höchstens dabei, das Ziel von echter Anpassungsfähigkeit (Agilität) zu erreichen.
Es ist unsere Verantwortung, sie in die Lage zu versetzen, Entscheidungen auf Basis einer gemeinsamen Faktenlage herbeizuführen und deren Auswirkungen zu validieren. Immer und immer wieder.
Rund um uns herum haben wir eine Menge von Menschen, die ein Ziel erreichen wollen, sei es der Entwickler, die Führungskraft oder die Fachexpertin. Und natürlich gibt es dabei Ideen oder Bedingungen, die sich beißen.
Lösungen können wir aber nur gemeinsam finden und austarieren. Das jedoch geht nicht ohne kontinuierliche Verbesserungen und Diskussionen auf Basis von messbaren und validierbaren Fakten (Metriken).
Daher bin ich der Meinung, dass der absolute Guiding Star für uns Scrum Master und Agile Coaches sein muss, einen funktionierenden, kontinuierlichen, faktenbasierten Verbesserungsprozess zu etablieren.
Wie siehst du das?
Metriken in der Produktentwicklung
Metriken sind die Basis für unternehmerisch kluge Entscheidungen. – Erschließ dir die Erkenntnisse, auf die es bei Messungen in der Produktentwicklung ankommt.
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