Auto steckt in Schlamm fest

Wenn der Change stecken bleibt – Darum führen agile Transformationen oft nicht zu mehr Business Agility!

Auto steckt in Schlamm fest
Photo by Zach Kirby on Unsplash

“Was ist die Reaktion auf Scrum und Agilität in Deiner Organisation?” Das frage ich immer wieder Scrum Master in meinen Kursen. Und seit Jahren sind typische Antworten: 

“Bleib mir bloß weg mit Scrum”
“Das brauche ich nicht.”
“Das klingt theoretisch gut, aber das funktioniert bei uns nicht.”
“Das haben wir alles schon gemacht. Das funktioniert nicht”
“Keine Lust auf den Meeting Overhead”
“Zu teuer”
“Das passt nicht in unsere Strukturen”

Und das, obwohl inzwischen substanziell Geld in “Agile Transformationen” investiert wird. Oder sollte man sagen versenkt? Denn in vielen Organisationen ist “Agilität” kaum mehr als ein Buzzword.

Auf einmal muss alles “agil” werden

In mehr und mehr Organisationen gibt das Management die Losung aus “Wir werden jetzt agil!” Woher kommt das? In Manager-Kreisen machen inzwischen zunehmend alarmierende Zahlen die Runde. Ein Beispiel: große, erfolgreiche Firmen verschwinden viel schneller als früher! So hat sich seit 1960 die durchschnittliche Aufenthaltsdauer einer Firma im S&P 500 Index von 61 auf inzwischen weniger als 20 Jahre reduziert (Quelle: Innosight, “Creative Destruction Whips through Corporate America”, Executive Briefing, 2012).  Pure Größe ist nicht mehr das sichere Erfolgsrezept. Beweglichkeit wird wichtiger. Und so erhoffen sich sich immer mehr Manager viel davon “agil zu werden, auch sich viele schwer tun zu beschreiben, was damit konkret gemeint ist.

Und dieser Wunsch nach mehr Agilität ist durchaus nicht falsch. Denn in einer sich immer schneller verändernden und komplexer vernetzten Welt entscheiden Flexibilität und Schnelligkeit tatsächlich immer häufiger über den Geschäftserfolg. So investieren immer mehr Firmen substanzielle Summen in agile Transformationen und Initiativen. Alleine in den USA gaben Firmen 2018 ca. 4,9 Mrd. USD für Coaching und Beratung bei agilen Transformationen aus, mit einer prognostizierten Wachstumsrate von über 17% (Quelle: Allied Market Research, “U.S. Enterprise Agile Transformation Services Market Outlook – 2026”, 2018).

Wie werden diese Mittel investiert?

Diese hohen Investitionen sollten eine gute Nachricht sein für all die engagierten Scrum Master und ihre Teams. Schließlich sind sie auf Unterstützung durch ihre Organisation angewiesen, wenn sie Scrum erfolgreich anwenden wollen, und haben daher oft lange für mehr Investitionen in diesem Bereich plädiert. Gezielte Investitionen in mehr Agilität sollten sich daher an der Basis zeitnah positiv bemerkbar machen. Doch das scheint nicht der Fall zu sein. Viele Scrum Master und auch die Teilnehmer in meinen Scrum-Kursen berichten mir von unverändert starkem Gegenwind in ihren Organisationen. Warum ist das so? Warum entfalten die eingesetzten Mittel nicht die gewünschte Wirkung?

Um das klären, stelle ich seit einiger Zeit den Teilnehmern in meinen CSM-Kursen zwei Fragen:

  1. “Was in deinem Umfeld hält dich und dein Team davon ab, Scrum gut zu leben?
  2. Mit welchen Maßnahmen versucht deine Organisation, agiler zu werden?

Und tatsächlich fällt es den Teilnehmern leicht, diese Fragen zu beantworten. Auf einer virtuellen Moderationswand sammeln wir die Antworten.  Das Board füllt sich schnell und sieht dann beispielsweise so aus wie in Bild 1.  (mit roten Kärtchen für Antworten auf die 1. Frage und grünen für Antworten auf die 2. Frage).

Hindernisse für Agilität und Unternehmensaktivitäten
Bild 1: Hindernisse und Aktivitäten der Organisation

Soweit so gut, die Teilnehmer können also nicht nur Hindernisse für agiles Arbeiten benennen sondern sehen auch eine ganze Reihe von Aktivitäten in ihrer Organisation, die dazu gedacht sind, agiles Arbeiten zu unterstützen.

“Outcome statt Output” gilt auch für agile Transformationen

Und doch haben viele dieser Scrum Master das Gefühl, dass ihre Organisation sehr schwer damit tut, agiler zu werden. Mein Kollege Simon Flossmann hat kürzlich sehr prägnant erläutert, dass sich Product Owner auf den Outcome fokussieren sollten, wenn sie mit ihrem Produkt relevanten Wert schaffen wollen. Dasselbe gilt auch für agile Transformationen. Viele Aktivitäten helfen wenig, solange nicht der gewünschte Outcome entsteht.

Woher kommt dieser Effekt von Alle-Räder-drehen-sich-aber-nichts-geht-voran? Eine interessante Perspektive liefert hier Karim Harbott in seinem Buch “The 6 Enablers of Business Agility.” Er argumentiert, dass sich viele Firmen – oft schlecht beraten von zu unerfahrenen “Agile Coaches” und Consultants – sehr schmalspurig auf das Thema Arbeitsweisen fokussieren. In den meisten agilen Transformationen wird viel Energie gesteckt in das Lösen von Fragen wie “Wie können wir Scrum bei uns einsetzen?”, “Welches Skalierungs-Framework nehmen wir?” oder “Welche Software-Tools müssen wir dazu lizenzieren?” Es werden Pilotprojekte mit Scrum oder SAFe gestartet, Mitarbeiter auf Scrum Master-Schulungen geschickt und Jira-Lizenzen gekauft. Dabei geraten andere essenzielle Bereiche komplett aus dem Blickfeld.

Wie erleben meine Kursteilnehmer Handlungsbedarf und Unternehmensaktivitäten?

Haben auch meine Kursteilnehmer den Eindruck, dass bei der agilen Transformation in ihrem Unternehmen die falschen Schwerpunkte gesetzt werden? Dazu ordnen wir nach der Sammlung von Hindernissen und Maßnahmen diese den sechs Schlüsselfaktoren für erfolgreiche Business Agility zu.  Ein Beispiel aus einem Kurs ist in Bild 2 dargestellt.

Bild 2: Mapping von Hindernissen und Aktivitäten auf die Schlüsselfaktoren für Business Agility

Dabei zeigt sich regelmäßig: Über 90% der Maßnahmen und Aktivitäten fokussieren sich auf den Bereich “Arbeitsweisen und Abläufe”, wohingegen 85% der genannten Hindernisse außerhalb dieses Bereichs liegen.

Und genau hier liegt das Problem! Die von Harbott genannten 6 Schlüsselfaktoren wirken tatsächlich wie Faktoren. Ist einer 0, ist das Gesamtergebnis ebenfalls 0: 10 x 0 ist 0. Und so bleibt die Transformation wie ein PKW mit durchdrehendem Rad im Schlamm stecken.

Reifen steckt im Schlamm fest
Photo by Aubrey Odom on Unsplash

Der Reflex so mancher Führungskraft erinnert dann stark an den ungeduldigen Fahrer, der auf den mangelnden Vorwärtsschub einfach reagiert, indem er das Gaspedal weiter durchdrückt. Und so wird mehr an derselben Stelle investiert. Die Räder drehen sich schneller, der Schlamm spritzt, und es geht trotzdem nicht voran. 50 x 0 ist weiterhin 0. “Mehr hilft mehr” gilt hier nicht.

Ein ausschließlicher Fokus auf einen oder zwei der Schlüsselfaktoren einer agilen Transformation führt nicht zum Erfolg, sondern verursacht vor allem Kosten und Frustration.

Business Agility erfordert Veränderungen in allen 6 Schlüsselfaktoren

Agile Transformationen liefern nur dann die gewünschte business-relevante Flexibilität, wenn sie auf dem Weg zu einem konkreten Ziel jeden der Schlüsselfaktoren auf kohärente und übergreifende Weise adressieren. Die von Harbott identifizierten Schlüsselfaktoren für Business Agility sind:

  1. Leadership und Management
  2. Kultur der Organisation
  3. Organisationsstruktur
  4. Menschen und ihr Engagement
  5. Governance und Finanzierung
  6. und eben Arbeitsweisen und Abläufe

Jeder dieser sechs Schlüsselfaktoren fasst eine Reihe von sich gegenseitig beeinflussenden Fragestellungen auf eine Weise zusammen, die sich in der Praxis als sehr hilfreich erweist.

Einerseits kann man dadurch die große Reichweite einer agilen Transformation erkennen und begreifen. Es ist nicht ausreichend, ein “Scaled Agile” Framework auszusuchen und zu “implementieren”. Für geschäftsrelevante Effekte müssen beispielsweise auch CFO und HR mit am Tisch sitzen und Faktoren wie “Governance und Funding” oder “Menschen und Engagement” von Anfang konsistent mitentwickeln.

Und andererseits geben die Faktoren einem Struktur und Ansatzpunkte, um eine Transformation erfolgreich zu gestalten. In welche Richtung sollte sich Leadership und Management bewegen? Welche Grundprinzipien sollten für Funding in agilen Umfeldern gelten? Wie kann ich Abläufe und Verhalten so verändern, dass eine Agilität unterstützende Unternehmenskultur entstehen kann?

Was tun, wenn die Transformation meiner Organisation zu eng fokussiert ist?

Nehmen wir an, du arbeitest als Mitglied eines agilen Teams oder auch als Stakeholder im Umfeld einer agilen Transformation. Und du vermutest, dass sie ebenfalls hauptsächlich auf Arbeitsweisen fokussiert ist und daher viele andere Stolpersteine nicht im Blick hat. Was kannst du tun?
Das ist natürlich keine leichte Frage, da sich dieses Problem vermutlich eher nicht in deinem Verantwortungsbereich befindet. Aber möglicherweise liegt es in deinem Einflussbereich.

Einfaches Sichtbarmachen könnte hier ein Stück weiterhelfen, z.B. indem du in deinem Umfeld das Experiment durchführst, das ich eingangs beschrieben habe.

Nutze dazu Workshops und andere passende Gelegenheiten, um von (möglichst unterschiedlichen) Beteiligten ein Meinungsbild abzuholen mit den beiden Fragen:

  1. “Was in deinem Umfeld hält dich und dein Team davon ab, gut agil zu leben?
  2. Mit welchen Maßnahmen versucht unsere Organisation derzeit, agiler zu werden?

Bedanke dich für ihre Perspektive und biete Interessierten an, deine Erkenntnisse zu teilen. Anschließend kannst du die Antworten selbst den Schlüsselfaktoren zuordnen und sehen, wie Probleme und „Agilisierungs“-Aktivitäten deiner Organisation verteilt sind.

In Zusammenarbeit mit den an den Ergebnissen Interessierten werden dann vermutlich nächste Schritte erkennbar. Das erste Ziel sollte dabei sein, dass die Verantwortlichen für die Transformation in einem Workshop z.B. mithilfe eines Business Agility Canvas die wichtigsten Aspekte der Transformation formulieren und sichtbar machen, so dass alle Beteiligten anschließend zueinander passende Maßnahmen über alle Schlüsselfaktoren hinweg umsetzen können.  Wenn du unsicher bist, wie ein solcher Workshop gestaltet und geleitet wird, empfehle ich dir, sich kompetente Unterstützung von außen dazu zu holen, ohne dabei die eigene Verantwortung für das Ergebnis der Transformation abzugeben.

In einigen späteren Artikeln werde ich auf das Business Agility Canvas und die einzelnen Schlüsselfaktoren näher eingehen und aufzeigen, welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus konkret ergeben. Aber zunächst würde mich interessieren, von Euch zu hören. Wo liegen die Haupthindernisse für agiles Arbeiten in Eurem Umfeld? Und welche Maßnahmen beobachtet Ihr? Teilt Eure Eindrücke gerne unten in den Kommentaren.

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