Wie ich 4 Wochen lang in Japan Zug fuhr und dabei die wichtigsten Grundprinzipien von funktionierendem Workflow erlebte
Wenn man schon mal in Japan ist, muss man sich als an Flow interessierte Person natürlich anschauen, warum Zugfahren in Japan so unvergleichlich gut funktioniert.
Für alle, die es noch nicht selbst erlebt haben: In Japan befördert der Shinkansen jährlich mehr als 330 Mio. Menschen durch das Land, wobei „die Pünktlichkeit international auf hohem Niveau” liegt (Wikipedia). Der Shinkansen ist zum Inbegriff eines Hochgeschwindigkeitszugs geworden und zählt zu den schnellsten nach regulärem Fahrplan fahrenden Zügen der Welt mit einer Höchstgeschwindigkeit von bis zu 320 km/h.
Wenn man beispielsweise am Bahnhof Shinjuku in Tokio seine Reise antritt, dann ist man einer von mehr als 3,6 Millionen Menschen, die den Bahnhof an diesem Tag ebenfalls nutzen. (Im Vergleich: Am Hauptbahnhof Hamburg sind es 550.000 Reisende täglich, in München 450.000, in Berlin 330.000.) Hinzu kommt als europäischer Tourist natürlich die Herausforderung, der japanischen Schrift und Sprache nicht mächtig zu sein.
Was ich erwartet hatte: Ein Gefühl des Verlorenseins, langes Durchkämpfen durch Menschenmassen, Suchen und Durchfragen, um das richtige Gleis, den richtigen Zug, die richtige Fahrkarte zu erwischen, viele Fehlversuche inklusive.
Was eingetreten ist: Genau das nicht.
Was ist der Grund dafür? Ich konnte 4 wichtige Prinzipien ausmachen, die diesen beeindruckend reibungslosen Ablauf an den Bahnhöfen und in den Zügen jederzeit sichergestellt haben. Dabei handelt es sich zugleich um Grundprinzipien, die alle beispielhaft sind für gelungenen Workflow im Arbeitsleben.
1. Standards und hohe Informationsdichte
Damit Menschen sich schnell bewegen können, müssen sie sich schnell orientieren können. Gar nicht so einfach in einem Land, in dem man weder der Sprache, noch der Schrift mächtig ist. Doch in Japan sind die Haltestellen durchnummeriert. Es genügt, die eigene Nummer zu kennen sowie die Nummer der Zielhaltestelle, und schon weiß ich erstens, wie viele Haltestellen ich fahren muss und zweitens, wie lange es dauern wird (die Fahrtdauer vom Startbahnhof steht als Minutenangabe neben den Haltestellen).
Genauso sind auf dem Bahnsteig die Zugänge zum Zug nummeriert – das hilft beim Umsteigen sehr, da man schon im Vorfeld den kürzesten Lauf-Weg zum Zug ermitteln kann.
Apropos Wegstrecke, für ordentliches Erwartungsmanagement ist es auch hilfreich, dass die Wegstrecke in Metern für den Gate-Wechsel angeschrieben steht.
2. Disziplin von allen beim Einhalten der Standards
Es mag sich für uns bevormundend anfühlen, wenn auf dem Boden aufgemalt ist „Bitte hier anstellen” oder „Diesen Bereich freilassen für den Ausstieg” oder wenn auf den Treppen erklärt wird „Diese Seite der Treppe ist für das Hochlaufen, die andere ist für das Herunterlaufen”.
Doch in den Dimensionen, in denen Bahnhöfe in Tokio operieren mit täglich rund 3 Millionen Passagieren, ist es unabdingbar, dass Laufwege in eine Richtung eingehalten werden, damit sich möglichst wenig Kollisionen und Staus ergeben.
Die Menschen tragen durch das Einhalten der Standards zu einem weitgehend reibungsfreien Passagierdurchsatz bei. Das gilt für die Wege durch den Bahnhof ebenso wie für den Bahnsteigwechsel.
3. Fokus auf Durchsatz und Fluss
Überhaupt wird überall deutlich, dass die meisten Bahnhöfe in Japan auf Fluss ausgelegt sind. In den großen Dimensionen hinsichtlich der Besucher-Zahlen bedeutet das, dass die Laufwege insgesamt länger sind und dass es zahllose Ein- und Ausgänge geben muss (in Shinjuku über 200!) Denn: Was man auf jeden Fall vermeiden möchte, sind Laufwegs-Kollisionen im großen Stil, die durch Kreuzungen der Wege oder zu wenige Ein- und Ausgänge entstehen würden.
Optimierung auf schnelle Beseitigung von Problemen
Wenn es dann doch mal hakt, ist Hilfe nicht fern. Neben den automatisierten Ticket-Gates gibt es Häuschen, in denen Menschen darauf warten, Hilfe zu leisten. Einmal hatte das Ticket-Gate die Karte von unserem jüngeren Sohn gefressen und die Tür ging nicht auf. Sofort kam jemand aus dem Häuschen, öffnete die Maschine und stellte fest, dass die Fahrkarte zerrissen war – und hat umgehend manuell eine Kopie des Tagestickets erstellt.
In Kanban würden wir sagen: Es wird auf kurze Wartezeit (und damit Fluss) für den Kunden optimiert. Um das zu erreichen, wird eben nicht auf die individuelle Auslastung der Arbeitenden (in dem Fall der Service-Kräfte am Gate) hin optimiert, sondern diese sind frei, um dann schnell reagieren zu können, wenn ihre Hilfe zur Problemlösung benötigt wird.
Auslagerung von potenziellen Störungen
Ebenfalls flussoptimiert ist der Umgang mit Fehlern und Irrtümern – während man gemeinhin VOR Fahrtantritt sicherstellen muss, dass man die richtige Fahrkarte für die Strecke gekauft hat, gibt es in Japan das Prinzip des Fare-Adjustments NACH der Fahrt. Du hast etwas falsch gemacht, bist länger gefahren als gedacht etc.: Kein Problem, du kannst NACH dem Aussteigen am Automaten den richtigen Fahrpreis nach-kalkulieren. Zum einen muss man sich so nie Gedanken machen „hab ich jetzt gerade das richtige bezahlt” – und zum anderen ist dadurch sichergestellt, dass die Zugfahrt selbst nicht behindert wird durch unnötiges Nachfragen, Überprüfen oder Maßnahmen gegen Falschfahrer. Clever!
4. Slow is smooth, smooth is fast (Eile mit Weile)
Auch spannend ist die schiere Gemütsruhe, mit denen sich die Menschen auf den Bahnsteigen bewegen. Wenn ein Zug mehrere hundert Leute entlässt, gibt es keine Hektik und kein Gedränge an Rolltreppen. Stattdessen bildet man in aller Ruhe eine Warteschlange vor der Rolltreppe. Im Endeffekt bedeutet das nichts anderes als: Durch das Verlangsamen des Einzelnen wird es für alle schnell.
Wir könnten uns da durchaus einige Dinge für uns abschauen – sei es für mehr Reibungslosigkeit auf unseren Großbahnhöfen oder für den Arbeitsfluss innerhalb unserer Unternehmen und Organisationen.
Was sind eure Standards, wie sorgt ihr für Fluss?
Gut für den Flow: Kanban-Trainings mit Daniel Westermayr
Hier findet ihr eine Übersicht der aktuellen Kanban-Trainings mit dem akkreditierten Trainer der Kanban University Daniel Westermayr.
Workshop zum Thema Arbeitsfluss: Das X:Flow-Game
Im Spiel zur Workflow-Simulation wird das Zusammenspiel von Arbeitslast und Team-Struktur sichtbar und erlebbar gemacht.
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