Deep-Dive: 3 tiefergehende Fragen (und Antworten) bei der Arbeit mit dem Lean-UX-Canvas
In den letzten Monaten habe ich viele Workshops durchgeführt, um Teams zu helfen, Scrum und UX zu vereinen.
Das Lean-UX-Canvas ist dafür das beste Werkzeug, denn es liefert einen strukturierten Ansatz, wie UX-Arbeit gemeinschaftlich im Team erfolgen kann. In diesen Workshops sind dabei tiefergehende Fragen aufgetreten. Da ich glaube, dass von den Antworten jeder Scrum-Anwender profitieren kann, möchte ich sie hier mit dir teilen:
Frage #1: Experimente sind teuer. Wie viel Aufwand ist gerechtfertigt?
Diese Frage höre ich häufig von Product Ownern.
Ich muss mir dann immer auf die Zunge beißen, damit mir nicht rausplatzt: „Features zu liefern, die keiner nutzt, ist noch teurer.“ Allerdings ist die Frage berechtigt, denn auch das Experimentieren kostet Zeit und somit Geld.
Damit du die Frage beantworten kannst, werde ich dir zwei hilfreiche Werkzeuge an die Hand geben:
Werkzeug 1: Die Wahrheitskurve
Der Aufwand eines Experiments sollte im Verhältnis zu der Menge an Erkenntnissen stehen, die wir dabei gewinnen. Diesen Zusammenhang spiegelt die Wahrheitskurve nach Giff Constable wider.
Die beiden Achsen im Detail erklärt:
- Die horizontale Achse gibt an, wie viel Aufwand wir bei der Erstellung des Experiments betreiben sollten.
- Die vertikale Achse zeigt die Menge der marktbasierten Hinweise an, die für unsere Ideen vorliegen.
Es bedeutet also, je mehr glaubhafte Hinweise wir haben, dass sich eine Idee lohnt, desto genauer und komplexer wird unser Experiment sein. Es wird zusätzlicher Aufwand nötig sein, weil das, was wir in Erfahrung bringen wollen, auch komplexer sein wird. Auf der anderen Seite sollte der Aufwand, welchen wir in die Erstellung eines Experiments stecken, auch geringer sein, wenn wenig glaubhafte Hinweise vorliegen.
Werkzeug 2: Experiment-Aufwand-Tabelle
Die Wahrheitskurve zeigt uns anschaulich, dass Lernen stetig verläuft und ein erhöhter Zeitaufwand nur gerechtfertigt ist, wenn die Tatsachen es nahelegen.
Um beim Experimentieren die Wahrheitskurve entlangzusurfen, brauchen wir eine konkrete Umsetzung der Wahrheitskurve. Ich nenne es die Experiment-Aufwand-Tabelle. Sie hilft uns vorab konkret festzulegen, wie die nächsten Experimente aussehen können und wie viel Aufwand veranschlagt wird. Wichtig bei der Anwendung ist, dass wir mit einem festen Zeitrahmen starten und dann im Detail beantworten, welche Erkenntnis wir mit welcher Experimentiertechnik in Erfahrung bringen können.
Im Detail beantworten wir im Team die folgenden Fragen:
- Was wollen wir in Erfahrung bringen?
- Welche Experimentiertechniken können wir verwenden?
- Wie kann das Experiment ablaufen?
Die Kombination aus Wahrheitskurve und der Experiment-Aufwand-Tabelle hilft nun, die entscheidende Frage beim Experimentieren zu beantworten:
Wie groß ist der minimale Aufwand, um die nächste wichtige Sache in Erfahrung zu bringen?
Alles, was darüber hinausgeht, ist Zeitverschwendung und verursacht unnötige Kosten.
Frage #2: Hilft das Lean-UX-Canvas auch bei der Weiterentwicklung bestehender Produkte?
Ja.
Schauen wir uns dazu beispielhaft die erste Box des Lean-UX-Canvas an.
Ich zeige dir eine Variante, wie wir ein Geschäftsproblem für ein existierendes Produkt formulieren können.
Das Geschäftsproblem besteht aus drei Elementen:
- Die aktuellen Ziele des Produkts oder der Dienstleistung
- Das Problem, welches das Unternehmen gelöst haben möchte (d. h., wo die Ziele nicht erreicht werden) und woher wir wissen, dass es sich um ein Problem handelt
- Ein expliziter Verbesserungswunsch oder Absicht mit Erfolgskriterien, die keine bestimmte Lösung vorschreiben
Mit der Beantwortung der Fragen können wir dann das Geschäftsproblem mit dem folgenden Template aufschreiben:
[Unsere Dienstleistung oder unser Produkt] wurde entwickelt, um [diese Ziele] zu erreichen. Wir haben [auf diese Weise] festgestellt, dass das Produkt oder die Dienstleistung diese Ziele nicht erreicht, was [diese nachteilige Auswirkung oder dieses Geschäftsproblem] für unser Unternehmen verursacht.
Wie können wir den Service oder das Produkt so verbessern, dass die Nutzer erfolgreicher sind? Wir sind erfolgreich, wenn sich [diese messbaren Veränderungen im Nutzerverhalten] zeigen.
Wie wir sehen können, eignet sich das Lean-UX-Canvas auch für die Weiterentwicklung eines bestehenden Produktes. Mehr noch:
Ich behaupte sogar, dass der Einsatz einfacher ist als bei der Neuentwicklung von Produkten. Die Neuentwicklung hat gegenüber der Weiterentwicklung einen entscheidenden Vorteil:
Wir kennen bereits unsere Nutzer und Kunden!
Wir wissen also, mit welchen Kunden wir sprechen sollten und welche Nutzer wir interviewen können, um mehr über das Problem, die Nutzer, die erhofften Ergebnisse und Vorteile in Erfahrung zu bringen.
Frage #3: Was ist der Unterschied zwischen Zielen, Vorteilen und Ergebnissen von Nutzern?
Im Lean-UX-Canvas Box 4 werden drei Fragen gestellt:
- Warum sollten die Nutzer das Produkt oder die Dienstleistung in Anspruch nehmen?
- Welchen Nutzen würden sie daraus ziehen?
- Welches Verhalten können wir beobachten, das uns zeigt, dass sie ihr Ziel erreicht haben?
In meinen Professional Scrum mit UX Kursen werde ich häufig gefragt, was diese Fragen unterscheidet.
Die Perspektive.
Die ersten beiden Fragen sollen helfen, die erwarteten Vorteile für den Nutzer zu ergründen, wenn er das Produkt verwendet. Es geht also um die Nutzerperspektive. In der dritten Frage wird nach dem Ergebnis für den Nutzer gefragt. Ein Ergebnis beschreibt eine messbare Verhaltensänderung. Um die Verhaltensänderung zu beschreiben, nehmen wir eine Außensicht auf den Nutzer ein. Somit ist der Vorteil das Ziel oder die Motivation, wozu die Nutzer das Ergebnis anstreben.
Hier ein Beispiel aus meinem Workshop. Das Produkt, welches die Teilnehmenden dort betrachten, ist „autonomes Fahren“. Dann ist das Ergebnis die verstärkte Nutzung der Autopiloten-Funktionen im Fahrzeug und der Vorteil für den Nutzer die Erhöhung der Sicherheit für sich und seine Familie bei der Fahrt.
Neben dem Unterschied zwischen Ergebnis und Vorteil für den Nutzer erhalten die Teilnehmer im Workshop die drei Einsichten:
- Feature und Lösungen sind weder Ergebnisse noch Vorteile für Nutzer.
- Du bist nicht der Nutzer!
- Nur wenn die Verhaltensänderung messbar ist, können wir später erkennen, welche Features hilfreich sind.