Sprint-Retrospektive: Wenn selbst erfahrene Scrum Master verzweifeln
Nichts ist für Scrum Master frustrierender als:
- …, wenn die Retrospektive ohne konkrete Lösung endet.
- …, wenn sich das Team nicht einigen kann.
- …, wenn Teammitglieder kein Interesse an einer konstruktiven Lösung haben.
Davon berichten mir Scrum Master, wenn wir im „Professional Scrum Facilitation Skills“-Training über Sprint-Retrospektiven sprechen. Nach hunderten selbst durchgeführten Retrospektiven kann ich ihren Frust und den Druck, unter dem sie stehen, gut nachvollziehen. Zum einen hilft ihnen der weitverbreitete Ratschlag nicht: „Du musst nur das richtige Format für die Retro wählen, dann wird sie schon ein Erfolg.“
Zum anderen ist es doch so:
Der Erfolg der Sprint-Retrospektive spiegelt den Erfolg eines Scrum Masters wider.
Wenn du diesen Frust vermeiden möchtest, findest du im Folgenden drei typische Probleme und Tipps, wie du sie angehen kannst.
Tipp: Wenn du mehr über Mythen erfahren willst, die rund um Scrum kursieren, dann interessiert dich sicher mein Beitrag “17 Scrum-Mythen, die jeder Professional Scrum Master widerlegen können muss“.
Problem 1: Wie gehe ich vor, wenn die Timebox der Retrospektive endet, aber das Scrum-Team keine Lösung gefunden hat?
Wenn du diese Erfahrung gemacht hast, bist du nicht allein.
Ich denke, jeder Scrum Master kennt diese Situation. Allerdings sollte sie die Ausnahme darstellen. Häufig kommt es dazu, wenn das Team zu lange in der Problemanalyse verharrt. Wenn du das ändern möchtest, kannst du diese Phase vollständig aus der Retrospektive streichen. Eine Möglichkeit dafür ist, die Retrospektive mit dem „Perfection Game“ zu starten.
Hier sind die einzelnen Schritte:
- Was bedeutet, dass ein Sprint perfekt ist?
- Wie bewerten wir den letzten Sprint auf einer Skala von 1 bis 10?
- Was hat uns im letzten Sprint gut gefallen und was hat zu meiner Bewertung geführt?
- Was hätte den letzten Sprint perfekt gemacht – was fehlt uns zur 10?
Durch die Beschreibung eines perfekten Sprints und die Bewertung des aktuellen Sprints entsteht eine Lücke. Diese Lücke lädt dazu ein, Verbesserungsideen zu suchen. In der Regel benötigen diese vier Schritte nicht mehr als 10 Minuten. Das Tolle an diesem Vorgehen ist, dass das Team nicht über Probleme spricht, sondern sofort nach Lösungen sucht.
Wenn du eine detaillierte Anleitung suchst, dann wirf gerne einen Blick auf meinen Webcast. Am Ende erkläre ich das Vorgehen noch einmal ausführlich.
Problem 2: Was mache ich, wenn sich das Team einig ist, dass es sich uneinig ist?
Es ist wichtig, zu verstehen, dass dies ein Problem ist.
Eine Entscheidung bedeutet, dass Diskussionen und Debatten ein Ende gefunden haben und das Team ins Handeln kommt. Ein Scrum-Team, das sich einig darüber ist, dass es sich uneinig ist, handelt nicht. Aber darum geht es in Scrum: Scrum-Teams entdecken das Unbekannte, indem sie Dinge tun. Das gilt auch für die Retrospektive.
Wie kannst du deinem Team helfen, diese Uneinigkeit zu überwinden?
Dazu komme ich gleich. Wichtig ist, dass du zunächst verstehst, dass Uneinigkeit nicht gleich Uneinigkeit ist.
Hierfür hat sich für mich folgendes 3-Stufen-Modell bewährt:
- Stufe 1: Uneinigkeit aufgrund fehlender Informationen
- Stufe 2: Uneinigkeit, da Werte nicht zusammenpassen
- Stufe 3: Uneinigkeit, die durch äußere Faktoren beeinflusst wird
Da du nicht weißt, welche Uneinigkeit vorliegt, musst du dem Team helfen, die Stufen schrittweise zu erklimmen. Auf diese Weise kann es die Uneinigkeit überwinden.
- Stufe 1: Ermutige die Teammitglieder, mehr Informationen zu ihrem Vorschlag zu sammeln. Eine typische Reaktion der anderen Teammitglieder lautet dann: „Ah, jetzt verstehe ich, was du meinst. Ich meine dasselbe.“ Falls diese Reaktion ausbleibt, bist du auf Stufe 2 angelangt.
- Stufe 2: Ermutige die Teammitglieder, zu erläutern, warum ihnen der Vorschlag wichtig ist. Basierend auf ihren Werten können dann neue Vorschläge oder Kompromisse gefunden werden. Falls das nicht möglich ist, liegt eine Uneinigkeit der Stufe 3 vor.
- Stufe 3: Hierbei handelt es sich um eine Uneinigkeit, die nicht innerhalb eines Meetings gelöst werden kann. Hier solltest du im Nachgang ein persönliches Gespräch suchen. Häufig gibt es Gründe für die Haltung der Einzelnen, die weit über den Teamkontext hinausgehen. Etwa, wenn ein unausgesprochener Konflikt zwischen Teammitgliedern vorliegt.
Wenn du dieses 3-Stufen-Modell bei deiner Moderation berücksichtigst, sollte Uneinigkeit in Retrospektiven die Ausnahme darstellen.
Problem 3: Was kann ich tun, wenn ein Mitglied meines Teams kein Interesse an konstruktiven Ergebnissen hat?
Was unterscheidet einen Moderator von einem Facilitator?
Vielleicht fragst du dich gerade, was das mit dem Interesse an konstruktiven Ergebnissen zu tun hat. Das werde ich gleich erklären. Zunächst musst du jedoch den Unterschied zwischen einem Moderator und einem Facilitator kennen, um meine Antwort nachvollziehen zu können.
Ein Moderator übernimmt die Verantwortung dafür, dass eine Gruppe innerhalb einer festgelegten Zeit ein bestimmtes Ergebnis erzielt. Er moderiert Debatten und Diskussionen so, dass Ziel und Zeitplan eingehalten werden.
Ein Facilitator unterstützt Gruppen dabei, Ergebnisse zu erzielen. Er glaubt daran, dass durch inklusive und partizipative Prozesse bessere Ergebnisse erzielt werden können.
Wie du mit jemandem umgehst, der kein Interesse an einer konstruktiven Lösung hat, hängt davon ab, wie du deine Rolle als Scrum Master lebst.
Wenn du dich als Moderator verstehst, setzt du alles daran, dass das Team zu einem Ergebnis kommt. Es ist dir wichtig, dass das Wohl der Mehrheit nicht durch den Widerstand Einzelner beeinträchtigt wird. Konkret könntest du …
- … nachfragen, was genau einzelne Teammitglieder mit ihren Aussagen meinen, um Missverständnisse zu vermeiden.
- … die Beiträge der Teammitglieder zusammenfassen, um sicherzustellen, dass jeder dasselbe Bild von der Situation hat.
- … direkt auf die Person zugehen und fragen, was ihr helfen würde, sich konstruktiv zu beteiligen.
- … die Person auf die Einhaltung der Working Agreements hinweisen.
Wenn du dich als Facilitator verstehst, setzt du alles daran, auch die Person einzubeziehen, die eine andere Haltung vertritt als der Rest des Teams. Für dich bedeutet psychologische Sicherheit, dass niemand verurteilt wird, nur weil er sich nicht so beteiligt wie die anderen. Du könntest dem Team die „vier Räume der Veränderung“ vorstellen, die von Claes Janssen beschrieben werden. Dabei handelt es sich um die Phasen und emotionalen Zustände, die Menschen durchlaufen, um sich in einer neuen Situation zurechtzufinden und zu lernen:
- Raum der Zufriedenheit: Wir sind mit der Situation zufrieden.
- Raum des Widerstands: Etwas Unerwartetes geschieht und wir wehren uns, um uns zu schützen.
- Raum der Verwirrung: Nachdem wir erkannt haben, dass wir uns verändern müssen, suchen wir nach Orientierung und Halt.
- Raum der Erneuerung: Wenn wir gelernt haben, mit der neuen Situation umzugehen, haben wir eine neue Kompetenz erworben. Durch diese Kompetenz fühlen wir uns wieder wohl. Wir sind wieder im Raum der Zufriedenheit angekommen.
Erklärst und visualisierst du die vier Räume der Veränderung, dann erleichterst du es dem Team, sich in schwierigen Situationen wie in Problem 3 selbst zurechtzufinden.
Die Unterscheidung zwischen Moderator und Facilitator eröffnet dir als Scrum Master neue Handlungsspielräume, um mit Personen umzugehen, die sich nicht konstruktiv an der Lösungsfindung beteiligen.
Deine Erfahrung ist wertvoll!
Welche Haltung bevorzugst du? Erzähle uns, wie du obige Probleme angehst. Teile mit uns, an welchen Stellen du nicht weiterkommst. Das Feedback und die Unterstützung anderer Scrum Master haben mir in der Vergangenheit immer geholfen, schwierige Situationen zu meistern und aus Fehlern zu lernen. Ich freue mich auf deine Geschichte in einem Kommentar!