Carolin Fiechter

Ich habe gedacht: Wenn das der tiefste Punkt ist, an dem du landen kannst – dann ist das echt in Ordnung.

Wie bei vielen ihrer Kolleg:innen ist Carolins Weg zu ihrem heutigen Beruf nicht geradlinig. Ihr Weg erscheint im Gegenteil besonders einzigartig. Er ist geprägt von steter Veränderung, Anpassung an äußere Umstände und der Notwendigkeit, sich neu zu erfinden. Von enorm erfolgreicher Unternehmensgründung hin zum fast vollständigen materiellen Verlust und Burnout erreicht sie einen Punkt, der – wie sie sagt – in einer ihrer wichtigsten Erkenntnisse mündet. – Und sie schließlich zu ihrem heutigen Erfolg als Agile Coach und Organisationsentwicklerin bringt.

Wie auch immer ein sogenannter ,geradliniger’ Weg ausgesehen hätte: Er hätte wohl kaum besseren Erfahrungsschatz für ihre Arbeit in den Unternehmen liefern können.

Liebe Caro, mit der Bitte um eine Antwort kurz und auf den Punkt: Was machst du, wenn du als Agile Coach oder ,Scrum Mistress’, wie du dich selbst bezeichnest, in Unternehmen arbeitest?
Ich helfe Teams und Organisationen, mit weniger Stress zu besseren Ergebnissen zu gelangen.

Mit welchen Teams arbeitest du aktuell zusammen?
Ich arbeite auf Teamebene als Scrum Master in Software-Entwicklungsteams. Daneben leite ich auf Organisationsebene ein teamübergreifendes Projekt.

Was genau ist das für ein Projekt?
Wir machen regelmäßig transparent, wie es bei den einzelnen Teams um die Teamgesundheit bestellt ist. Also: Wie resilient ist ein Team gegenüber äußeren Einflüssen. Wie gut kann es Veränderungen wegstecken und wie enthusiastisch ist die Grundstimmung.
Dazu holen wir Coaches uns regelmäßiges Feedback zu verschiedenen Punkten von den Teammitgliedern ein. 

 „Je früher man sich über ungesunde Teamdynamiken bewusst ist, desto besser. 
Wenn ich mir die Sache erst ansehe, wenn die ersten Kündigungen eingegangen sind, ist es zu spät."

Kannst du das Einholen des Feedbacks etwas konkreter beschreiben?
Wir haben einen anonymen Fragebogen nach wissenschaftlichen Standards entworfen, der verschiedene Aspekte wie beispielsweise Stolz auf die eigene Arbeit oder das Energielevel im Team abfragt und standardisiert ausgewertet wird. Neben der Erhebung über den Fragebogen steht die Einschätzung durch ein Gespräch mit den Führungskräften, z.B. mit dem Lead Product Owner. Im geschützten, vertrauensvollen Raum stellen wir Coaches die Frage „Wie geht es euch, wie geht es dem Team gerade?”.

Wie könnt ihr euch sicher sein, dass die Teammitglieder überhaupt offen dafür sind, ihre Meinung wirklich zu teilen?
Die Grundlage für eine ehrliche Antwort kann natürlich nur eine echte Vertrauensbasis sein. Wir externen Coaches haben dabei den Vorteil, dass wir unabhängiger agieren können und bestehende Verhältnisse sicherlich unvoreingenommener bewerten. Dies wird auch von den Mitarbeitenden so wahrgenommen. Zudem muss ganz klar sein: Was ihr uns hier preisgebt, geschieht in einem geschützten Raum. Es werden nur bestimmte Informationen an das Management weitergegeben und die sind zuvor abgestimmt. Dabei wird die Anonymität immer gewahrt. – Der wohl wichtigste Punkt ist aber, dass der Mehrwert der Maßnahme für die Teammitglieder erkennbar wird: Wer für sich selbst einen Sinn in so einer Befragung erkennt, wird sich auch dauerhaft aktiv daran beteiligen.. 

Was erhofft sich das Unternehmen von dieser Maßnahme zur Teamgesundheit und wie kam es dazu?
Der Auslöser war die plötzliche Auflösung eines Teams durch Abwanderung der Mitarbeitenden. Da entstand der Wunsch nach einer Art Frühwarnsystem: Woran kann man erkennen, dass in einem Team die Lage kippt, sodass die Mitglieder beginnen, sich nach Alternativen umzusehen? Je früher man sich über ungesunde Teamdynamiken bewusst ist, desto besser. Wenn ich mir die Sache erst ansehe, wenn die ersten Kündigungen eingegangen sind, ist es bereits zu spät. 

Es klang eben an, dass externe Coaches einen Vorteil haben, wenn es um Vertrauensaufbau zu den Teammitgliedern geht. Haben externe Coaches in deinen Augen grundsätzlich einen Vorteil bei ihrer Arbeit in Organisationen? 

Grundsätzlich erlebe ich das so, ja. Es gibt natürlich auch Nachteile, v.a. wenn man neu beginnt in einem Unternehmen, in dem man noch nicht viele Kontakte hat. Dann braucht es eine gewisse Anlaufzeit, um zu verstehen, welche Dynamiken im Team bestehen oder auch ganz praktisch: An wen muss ich mich wenden, um die Informationen zu bekommen, die ich benötige.

Davon abgesehen ist gerade dieser erste, noch distanzierte Eindruck sehr wertvoll. Ich kann meine bisherige Erfahrung und meinen frischen Blick auf das Ganze wunderbar nutzen, um Problematisches oder Unstimmiges zu erkennen und dann auch zu benennen. Das können wertvolle Startpunkte sein, um Veränderung zu ermöglichen.

Als Externe fällt es mir zudem leichter, Dinge gegenüber dem Management durchzusetzen. Wie beispielsweise in dem Fall der Erhebung zur Teamgesundheit: Natürlich bestand da Interesse an den gesammelten Rohdaten der Befragung. Da hilft dann schonmal die deutliche Stimme einer Externen, die sagt: Wenn ihr möchtet, dass das Ganze Erfolg hat, dann lasst das mal besser sein.

 „Sollte ich nicht versuchen, über die Veränderung der Organisationsstruktur ungenutztes Potenzial anzuzapfen und 10 % mehr aus dem System rauszuholen, anstatt noch mehr Anstrengungen auf Teamebene zu bemühen, um dort von 95 % Leistung auf 96 % Leistung zu kommen?"

Der Auftrag eines Agile Coaches lautet, die agile Transformation oder Transition eines Unternehmens zu begleiten: Was ist dein Blick darauf? Worin besteht der Mehrwert für das Unternehmen?
Auf Teamebene ist der Agile Coach, z.B. in Form des Scrum Masters, extrem wichtig, um die Sinnhaftigkeit der Arbeit zu sichern. D.h., dass Ergebnisse mit konkretem Wert für das Unternehmen entstehen und nicht etwa zu einem guten Teil „für die Tonne” gearbeitet wird. 

Letzteres trifft das Unternehmen gleich doppelt: Es entsteht wenig Wert und die Mitarbeiter:innen werden demotiviert. Hier hat sich unzählige Male erwiesen, wie unglaublich wichtig es ist, die eigenen Mitarbeitenden zu befähigen, sich selbst zu organisieren. Der Agile Coach achtet darauf. Und er hat sich um die Resilienz des Teams zu kümmern, damit es auch in undurchsichtigen, weniger optimalen Zeiten gut zurechtkommt und sich neuen Situationen anpassen kann.

Noch wichtiger als auf Teamebene ist für die Situation, in der sich viele Unternehmen befinden, jedoch die Begleitung der agilen Transformationen auf Organisationsebene.

Kannst du das erklären?
Ein sehr häufiges Problem, auf das meine Kolleg:innen und ich treffen, ist eine Inseloptimierung auf Teamebene. Um noch besser und schneller zu werden, konzentrieren sich die Bemühungen oft auf die Optimierung einzelner Teams. Die organisatorische Grundstruktur bleibt dabei unangetastet.
Sinnvoller wäre es zu fragen: Sollte ich nicht lieber versuchen, über die Veränderung der Organisationsstruktur ein ganz anderes Potenzial anzuzapfen und 10 % mehr aus dem System rauszuholen, anstatt noch mehr Anstrengungen auf Teamebene zu bemühen, um dort von 95 % Leistung auf 96 % Leistung zu kommen?

Beim Impulsvortrag auf der Transport Logistics Messe (links) oder bei der Moderation Agiler Events (Mitte) steuert Caro gerne durch die Themen. Auf dem Motorrad genießt sie die Position der Beifahrerin.

Hast du eine Erklärung dafür, dass anscheinend bei vielen Unternehmen die Organisationsstruktur überholungsbedürftig ist?
Unternehmen verändern sich ständig, häufig durch Wachstum, was ja erst einmal erfreulich ist. Dann passiert es nicht selten, dass ein System, das bislang wunderbar funktioniert hat und möglicherweise der Schlüssel zum Erfolg war, sich plötzlich abnutzt. Dieses Phänomen ist in allen Größenordnungen zu beobachten: Das, was für 10 Mitarbeiter gut funktioniert hat, funktioniert nicht mehr für 50. Was mit 100 Mitarbeitern sehr erfolgreich war, fährt mit 1000 Angestellten plötzlich gegen die Wand usw.

Worin genau bestehen denn die Unterschiede? Hast du Beispiele?
In kleinen Unternehmen kann es sehr gut funktionieren, wenn die einzelnen Positionen mit ihren verschiedenen Aufgaben von oben ,durchgemanagt’, d.h. sehr stark reguliert werden. Wenn nun durch den Aufschwung das Unternehmen weiter wächst, kommt dieses System irgendwann an seine Grenzen. Es limitiert sich in der neuen Größe vielleicht selbst auf nur 60 % der Leistungsfähigkeit. Das muss man erkennen und dann am System etwas verändern.

Welche Möglichkeit gäbe es da, wenn wir mal bei deinem Beispiel bleiben?
Man sollte sich vom Mikromanagement verabschieden und stattdessen für „Enabling” der Mitarbeiter sorgen. Dabei ist es wichtig, klare Ziele zu setzen und Leitplanken zur Orientierung zu errichten. Dass das tatsächlich funktioniert, habe ich selbst erlebt.

Du sprichst von der Zeit, als du selbst Unternehmerin warst?
Genau. Wir sind mit unserer Idee damals quasi vom Wohnzimmer aus in einem kleinen Rahmen gestartet. Durch das Glück besonderer medialer Aufmerksamkeit und den Rückenwind durch neue Partner waren wir recht plötzlich in der Situation, mit 50 neuen Mitarbeiter:innen weiterzumachen. Es handelte sich dabei um ein sehr heterogenes Team mit Positionen aus der Wissenschaft und der Produktion: Die muss man alle gleichermaßen mitnehmen. Das klappt in so einer Situation nicht durch Mikromanagement.

Hast du damals schon mit agilen Frameworks gearbeitet?
Wir haben uns vor allem Kanban für ein visuelles Management zu Nutze gemacht. 

 „Ein System kann lange wunderbar funktionieren, dem Unternehmen Wachstum bescheren und dann durch dieses Wachstum wieder an seine Grenzen stoßen. Verändert man nichts, limitiert es sich selbst in seiner Leistungsfähigkeit."

Wie ging es mit deinem Unternehmen weiter und wie bist du von dort zu deinem heutigen Beruf gekommen?
5 Jahre lief es weiter und es ist uns gelungen, uns gut aufzustellen und schließlich schwarze Zahlen zu schreiben. Vermeintlich hatten wir es geschafft.
Bis ein unabhängiger Test einer unserer Verkaufspartner plötzlich ergab, dass der Rohstoff unseres Produkts mit einem Stoff belastet war, der es lebensmittel-untauglich machte. Natürlich hatten wir alle Regeln zur vorgeschriebenen Testung zuvor eingehalten, die diesen Stoff jedoch nicht erfassten. Von jetzt auf gleich war alles zu Ende, wir mussten Insolvenz anmelden.

Wie ging es dir damit, wie hast du diese sicherlich sehr schwere Situation durchlebt? 
Zunächst erst einmal gar nicht gut. Während der Jahre des Unternehmensaufbaus habe ich mich zerrissen zwischen meinen Pflichten als CFO/COO, meiner Verantwortung meinen Mitarbeitern gegenüber und natürlich auch der privaten Pflichten meiner Familie gegenüber. Auf mich selbst habe ich dabei nicht mehr geachtet. Mit dem Zusammenbruch des Unternehmens kam dann auch mein eigener Zusammenbruch, der sich in einem Burnout äußerte.
Im Rückblick war jedoch diese Auszeit, die sich zwangsläufig für mich ergab, heilsam und erkenntnisreich. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit habe ich mich wieder gespürt und habe gelernt, dass Nachhaltigkeit beim persönlichen Einsatz unglaublich wichtig ist, um nicht krank zu werden.
An dem vermeintlich tiefsten Punkt meines Lebens, als ich buchstäblich nichts mehr hatte: Keinen Beruf, kein Unternehmen, die Trennung von meinem Mann und eine fast leere Wohnung, da wurde ich plötzlich unfassbar ruhig. Ich habe gedacht: Wenn das der tiefste Punkt ist, an dem du landen kannst – dann ist das echt in Ordnung. „Happiness is a choice”:  Das ist wahr und ich habe es in dem Moment deutlich gespürt.

Eine sehr bewegende Geschichte! Du hast dann im Anschluss selbst Agilität im Sinne bester Anpassungsfähigkeit bewiesen, indem du als Alleinerziehende zu Pandemiezeiten als Vertretungslehrkraft Geld verdient hast. 
Exakt. Ich war in einer Situation, in der ich mich fragen musste: Welche Arbeit kannst du nun machen, die nicht nur sinnvoll ist, sondern auch ermöglicht, zu denselben unplanbaren Zeiten “frei” zu haben, wie deine Kinder? (lacht)

Doch dabei ist es dann nicht geblieben.
Nein – mein Weg zum Agile Coach bzw. Scrum Master hatte sich zuvor schon angebahnt. Im Grunde haben mein BWL-Studium und meine Forschung und Lehre in den Bereichen Wissensmanagement und Geschäftsprozessgestaltung bereits den Grundstein dazu gelegt. Während meiner Auszeit nach der Insolvenz habe ich dann schließlich meine Erfahrung und mein Wissen rund um Agiles Arbeiten, das ich großteils in meinem eigenen Unternehmen schon angewandt habe, mit Trainings und den entsprechenden Zertifizierungen untermauert.

Sehr glücklich bin ich nun, in der Rolle als Teil des Colenet-Teams im Einsatz sein zu können! Die Förderung des Weiterlernens, die ich hier erfahre und die vielen inspirierenden Kolleg:innen, die sich gegenseitig unterstützen und viel auch voneinander lernen: Das ist sicherlich nicht selbstverständlich und ich empfinde es als absoluten Glücksfall!

Vielen lieben Dank, Caro, dass du uns deine Geschichte so offen erzählt hast! Alles Gute auf deinem weiteren Weg.

Das Interview führte Anika Dewald 

Fragen zum Thema, Hilfe oder einfach Austausch gewünscht?

Wendet euch gerne per Mail oder Linkedin direkt an Carolin.

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