Inside-Out Agile Leadership

Grenzen der Team-Agilität überwinden für eine wirksame Veränderung

Kollegen erzählten mir vor einiger Zeit, dass bei ihrem Kunden eine Führungskraft darauf bestand, dass jedes agile Team zusätzlich zu Scrum Master und Product Owner auch einen Team Lead haben muss. Ein Beispiel von vielen, die zeigen, wie eng die Grenzen oft sind, die der Agilität von Teams gesetzt werden. Die Teams stoßen bei dem Versuch, flexibler zu werden, auf ein unüberwindlich wirkendes System ineinander greifender und sich gegenseitig stützender Strukturen, Regelungen und Kennzahlen.

In diesem Artikel schauen wir uns an, was hinter diesem System steckt und zeigen einen Weg auf, wie man dieses System sogar nutzen kann, um wirksame Veränderungen zu erreichen.

Der Outside-In Ansatz

Manchmal sind es die Teams selbst, manchmal beschließen Führungskräfte: Wir müssen agiler werden! Dann passiert meist Folgendes:

  1. Wir machen Scrum! – Sie führen eine neue Arbeitsweise ein, sei es Scrum, Kanban oder auch eines der skalierten Frameworks wie LeSS, Nexus oder SAFe.
  2. Wir stoßen an das System – Die neue Arbeitsweise stößt an das System der Organisation, in Form von Regelungen, Strukturen oder Messgrößen.
  3. Das System gewinnt – Die neue Arbeitsweise wird so angepasst, dass sie (vielleicht bis auf manche Begriffe) der alten entspricht. Es entsteht „Fake Agile”.

Dieses Vorgehen wird auch als Outside-In Ansatz bezeichnet. Die Basis ist ein Bild der Organisation, bei dem im Zentrum die Kultur der Organisation steht – die meist unausgesprochenen – Dinge, die für die Organisation besonders wichtig sind. Darum liegt ein Kreis von Strukturen, Regelungen und Metriken, oft kurz System genannt. Und im äußersten Ring liegen die alltäglichen Arbeitsabläufe und Prozesse.

Beim Outside-In Ansatz dringt der Veränderungsimpuls von außen in Richtung des Kerns der Organisation vor.

Outside-In-Ansatz
Bei einem erfolgreichen Outside-In-Ansatz dringt der Veränderungsprozess über die Arbeitsabläufe und Prozesse durch das Organisations-System bis hin zur Unternehmenskultur
(Grafik: Agile Leadership Journey).

Das System schützt die Werte der Organisation 

Für jede Organisation sind bestimmte Dinge oder Ideen besonders wichtig, damit sie ihren Mehrwert erzeugen kann. Für einen Energieversorger sind beispielsweise Verlässlichkeit und Sicherheit unerlässlich, was auch gut so ist. Auch ich möchte keinen Energieversorger, für den diese Dinge nicht relevant sind. Um diese Werte der Organisation bei der täglichen Wertschöpfung sicherzustellen, entwickelt sich ein System von ineinander greifenden, diese Werte schützenden Strukturen und Regelungen wie z.B. Abteilungen und Beförderungsrichtlinien. Die Organisation überwacht in Verbindung mit diesen Werten stehende Kennzahlen. 

Das System liegt wie ein schützender Burgwall um die Wertekultur der Organisation.

Dieses System liegt wie ein schützender Burgwall um die Wertekultur der Organisation. Ausführliche Sicherheitsrichtlinien stellen sicher, dass der Energieversorger auch morgen noch sicher ist.

Eine Veränderung von außen erzeugt Widerstand

Wenn nun ein Veränderungsimpuls von außen kommt, der im Widerspruch zu den Werten der Organisation steht, stößt er auf dieses System. 

Es agiert nun als mächtiges Verteidigungsbollwerk und wird nicht einfach nachgeben, da diese Werte entscheidend für den Erfolg der Organisation sind. 

Wenn eine Veränderung von außen beginnt, signifikant zu werden, aktiviert das System seine Abwehrkräfte und beginnt, den Eindringling zu bekämpfen.

Dieser Effekt tritt nicht sofort auf. Solange die Veränderung noch klein ist, wird das System sie nicht wirklich ernst nehmen und ignorieren. Doch nach einiger Zeit, wenn sie beginnt, signifikant zu werden, aktiviert das System seine Abwehrkräfte und beginnt, den Eindringling zu bekämpfen. 

Doch wie sieht das konkret aus, wenn man auf diesen Systemwiderstand trifft? Die Einführung agiler Arbeitsweisen auf Teamebene ist ein gutes Beispiel.

Die Glasdecke der Team-Agilität

Viele Agile Coaches berichten von einer Art Glasdecke, an die sie bei dem Versuch, mit ihrem Team wirklich agil zu arbeiten, stoßen.
Wie eine unsichtbare Barriere verhindert sie weiteren Fortschritt. „Das ist halt hier so” und „So machen wir das hier eben” bekommen sie zu hören. Sie reiben sich an bestimmten

  • Abteilungsstrukturen
  • Zielvorgaben und damit verknüpften Bonuszahlungen 
  • Beförderungsrichtlinien
  • Einstellungskriterien
  • Budgetierungsrichtlinien
  • Controlling-Kriterien
  • Projekterfolgskriterien
  • Karrierepfaden

Die Umstellung der Arbeitsweise auf ein iteratives Verfahren wie Scrum ist ein typisches Beispiel für so einen Impuls von außen. Sie stellt bestehende Regelungen und Werte in Frage.

Wenn die Regelungen und Wertvorstellungen unverändert bleiben, können agile Frameworks nur beibehalten werden, wenn sie konform dazu gestaltet werden. – Schnelles Erkennen und passendes Reagieren auf neue Situationen bleiben dabei auf der Strecke.

Beispielsweise wird nun mehr Wert auf schnelles Reagieren auf neue Situationen und enge Zusammenarbeit mit den Kunden als auf Planbarkeit und Lieferung vertraglich abgesicherter Leistungsumfänge gelegt. Das System wehrt diesen Impuls ab. Abteilungsleiter beharren auf ihrer Weisungsbefugnis. Es wird auf verbindliche Vorgaben der geltenden Qualitätsmanagement-Richtlinie verwiesen. Das Project Management Office beharrt auf einer einheitlichen Vorgehensweise beim Reporting von Fortschrittskennzahlen. Und die Führungskräfte stützen dieses System.

Da die Regelungen und Wertvorstellungen unverändert bleiben, kann Scrum nur beibehalten werden, wenn es konform dazu gestaltet wird. 

Schnelles Erkennen und passendes Reagieren auf neue Situationen bleiben auf der Strecke. Die anfänglich engagierten Agile Coaches und die Mitarbeiter resignieren zusehends und fallen in alte Denkmuster und Verhaltensweisen zurück.

Grafik zu "Limited Agility"
Leadership und Kultur als „Glasdecke“ für agile Veränderung
(Grafik: Agile Leadership Journey).

Die Glasdecke besteht also aus dem Denken in der Leadership sowie dem System von Regeln, Strukturen und Messgrößen der Organisation.

Wie kann die Führung selbst für Veränderung sorgen?

Wenn du eine Veränderung erreichen willst, darfst du das System und die Kultur der Organisation nicht als Feinde betrachten.

Führungskräfte haben – je nach Führungsebene in unterschiedlichem Maße – die Möglichkeit, das System zu verändern. Sie können deshalb einen wirksameren, nachhaltigen Ansatz umsetzen, indem sie stattdessen von innen nach außen vorgehen und ausgehend von der Kultur das System als Hebel nutzen:

  1. Orientiere dich an der vorhandenen Kultur.
    Verstehe sie und schaffe ein gemeinsames Verständnis, in welche Richtung sie sich entwickeln sollte.
  2. „Tweake” das System.
    Setze kleine, experimentelle Veränderungsmaßnahmen um, die Impulse in die gewünschte Richtung erzeugen.
  3. Nutze das System als Hebel.
    Nutze die Systemänderungen gezielt für die Anpassung der Arbeitsprozesse. Gleichzeitig wirken die Änderungen auf die Werte der Unternehmenskultur ein.
Grafik zum Inside-Out-Change
Der Inside-Out-Ansatz beginnt bei der Unternehmenskultur und kann mit verschiedenen Methoden über die Leader gesteuert werden (Grafik: Agile Leadership Journey).

Wenn du also eine Veränderung erreichen willst, darfst du das System und die Kultur der Organisation nicht als Feinde betrachten. Sie sind entstanden, weil sie wichtig für die Art und Weise sind, wie die Organisation derzeit Wert stiftet. Wichtig ist, dass du Einfluss auf das System besitzt, entweder, indem du es direkt selbst verändern kannst, oder weil du Menschen mit dieser Möglichkeit an deiner Seite hast.

Wie kann das konkret aussehen?

Es gibt viele Möglichkeiten, Unternehmenskultur sichtbar zu machen und Veränderungen zu initiieren. Für mich funktioniert eine Kombination dieser Werkzeuge besonders gut:

  • Das Competing-Values Framework ermöglicht es mir, Unternehmenskultur sichtbar und besprechbar zu machen.
  • Das Culture-Game macht unterschiedliche Unternehmenskulturen erlebbar und schafft so mehr Verbindung zur eigenen Unternehmenskultur.
  • Ein Culture-Assessment liefert uns eine belastbare Basis für die Entwicklung der eigenen Kultur.
  • In Culture-Alignment Workshops schaffen wir eine gemeinsame Sicht auf gewünschte Kulturveränderungen.
  • In Tweak-the-System Workshops identifizieren wir gezielt Kenngrößen, Regelungen oder Strukturveränderungen, die zur angestrebten Kultur passen und sie in die gewünschte Richtung weiterentwickeln.

Wenn sich eine Organisation solche Werkzeuge zu eigen macht und dadurch die Fähigkeit entwickelt, ihre eigene Kultur kontinuierlich in der erforderlichen Richtung weiterzuentwickeln, hat sie einen wichtigen Grundstein für ihre Agilität als Organisation gelegt.

Grafik zu "Effektive Agilität" (Agile Leadership Journey)
Bei effektiver agiler Veränderung entwickeln sich Leadership&Kultur des Unternehmens parallel (Grafik: Agile Leadership Journey).

Wo kann ich mehr dazu erfahren?

Eine sehr hilfreiche, wenn auch nicht ganz leicht zu lesende Quelle zum Competing Values Framework ist das Buch „Competing Values Leadership” von Kim Cameron, Robert Quinn et al.

Für Menschen, die eher einen interaktiven Zugang zu neuen Themen bevorzugen, biete ich über Colenet auch öffentliche Kurse und firmenspezifische Workshops dazu an (Agile Leadership Journey). Wirf gerne einen Blick auf die Liste der verfügbaren Termine und kontaktiere mich, wenn du Fragen zu den Workshops hast oder Unterstützung bei einer gewünschten Veränderung möchtest.

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