Retrospektive mit Emotionen

Hilfe, meine Retrospektive explodiert gerade! 5 Tipps für stürmische Zeiten

Retrospektive mit Emotionen
Manchmal werden Retrospektiven unerwartet stürmisch [Foto von Afif Kusuma auf Unsplash]

Kennst du das auch? Du hattest du einen vielversprechenden Plan für eine Retrospektive, und dann passiert es. Ein heftiges Wort, dann noch eines, die Atmosphäre wird plötzlich hitzig. Die geplante Aktivität wirkt auf einmal lächerlich unpassend. Dir wird klar: deine Retrospektive explodiert gerade vor deinen Augen!

Ich nutze seit über 15 Jahren Retrospektiven in meiner Arbeit – und du wirst nicht glauben, was so alles in Retrospektiven passieren kann. Von minutenlangem Schweigen über seltsam heiteres Reden von Belanglosem bis hin zu unerwarteten und manchmal heftigen Gefühlsausbrüchen. Da ist man als Facilitator manchmal ganz schön herausgefordert. 

In diesem Artikel zeige ich dir, warum du die plötzliche Dynamik in einer Retrospektive nicht fürchten sondern dich darüber freuen solltest. Und du erfährst fünf Tipps, wie du dein Team durch eine emotional schwierige Phase begleiten kannst.

Oh Schreck! Was passiert hier?

Vielleicht gibt es ein dringendes Thema, das alle gerade umtreibt, und das sich jetzt Bahn bricht. Meist gilt hier: „Dringend schlägt Wichtig!“ Das Thema will adressiert werden, sonst kann das Team nicht an anderen Dingen arbeiten. Oft reicht es auch aus, zu klären, wie mit dem Thema nach der Retrospektive umgegangen wird.

Doch es kann auch sein, dass intensivere Emotionen in einer Retrospektive bei diesem Team zum ersten Mal auftreten. Das ist für viele Scrum Master und vielleicht auch für dich überraschend und beunruhigend. Du bist es gewohnt, dass weitgehend sachlich und konfliktfrei über verschiedene, eher unkritische Maßnahmen gesprochen wird. Nun ist auf einmal alles anders und du fragst dich natürlich: „Oh mein Gott! Was läuft hier gerade schief?“

Die gute Nachricht ist: Vermutlich läuft hier gerade gar nichts schief, im Gegenteil. Das Team befindet sich gerade in einer wichtigen Phase seiner Team-Bildung. Diese Phase ist nötig, damit es zu wirklicher Leistungsfähigkeit gelangen kann. 

Tatsächlich bin ich als Scrum Master sogar froh, wenn in einem Team nach kurzer Zeit die ersten Konflikte aufbrechen. Denn wenn dauerhaft keine Meinungsverschiedenheiten auftreten, ist das oft eine größere Herausforderung für mich, als eine turbulente Retrospektive zu begleiten. 

Es ist nur eine Phase!

Warum hast du also Grund, dich zu freuen? Dein Team zeigt dir nämlich gerade, dass es inzwischen so viel psychologische Sicherheit gewonnen hat, dass es für sie ok ist, Emotionen zu zeigen. Sie dürfen eine Meinung äußern, die im Konflikt zu der von anderen Team-Mitgliedern steht. 

Das passiert in der Regel nicht gleich am ersten Tag, direkt beim gemeinsamen Start. Da ist alles noch neu, man muss sich erst orientieren und die anderen kennenlernen. Unterbewusst beginnt man einzuschätzen, welches Risiko man eingeht, wenn man die eigene Meinung äußert. Bruce Tuckman, ein amerikanischer Psychologe, nennt das die „Forming”-Phase, die erste von vier Entwicklungsphasen eines Teams auf dem Weg zu echter Performance.

Es ist sehr gut möglich, dass ihr in dieser Retrospektive gerade den Eintritt in die folgende Phase, die „Storming”-Phase erlebst. Allmählich nimmt die psychologische Sicherheit zu, parallel dazu verblasst die motivierende Aufbruchsstimmung. Die Herausforderung für das Team entpuppt sich vielleicht als unerwartet groß. Initiale Vorstellungen und Lösungsansätze stellen sich als nicht so hilfreich heraus. Auf einmal sind überall Probleme. Es brechen Konflikte auf! — Und das ist nicht nur ganz normal, es ist sogar gut. Denn dadurch hat das Team die Chance, anschließend in die sogenannte „Norming”-Phase einzutreten und Regeln für die gemeinsame Arbeit zu entwickeln. Dies ist wiederum Voraussetzung für den Übergang in die so heiß herbei gesehnte „Performing“-Phase. 

Doch von Tuckman nun zurück zu explodierenden Retrospektiven und dem, was man als Scrum Master tun kann.

Aufgaben des Scrum Masters in einer stürmischen Retrospektive

Hier stehst du nun, mitten im plötzlich in eurer Retrospektive aufbrechenden Streit. Du und dein Team sind also erfolgreich in der Storming-Phase angekommen. Und du denkst “Hurra! Schau sie dir an, sie fühlen sich sicher genug um in den Konflikt zu gehen! Großartig!”

Und jetzt? Was sollte ich als Scrum Master jetzt tun? Alles einfach laufen lassen? Hier hilft ein Blick auf die Aufgaben des Scrum Masters in der Storming-Phase.

  • Dafür sorgen, dass die Konflikte nicht eskalieren
  • Zuversicht und Ruhe ausstrahlen
  • Für ein offenes, wertschätzendes Klima sorgen
  • Nicht das Ruder an sich reißen 
  • Gelegenheiten bieten, in die Norming-Phase zu wechseln

Schauen wir uns diese Punkte etwa genauer an.

Dafür sorgen, dass Konflikte nicht eskalieren

Eskaliert dieser Konflikt hier gerade? Beschimpfen sich Team-Mitglieder? Sind die Emotionen bei Einzelnen so stark, dass bereits eine sogenannte kognitive Trübung einsetzt, die logisches Denken, Urteilsvermögen, oder auch das Gefühl für Verhältnismäßigkeit stark behindern würde. Zornesröte oder unverhältnismäßige Redeweise / Lautstärke wären deutliche Signale dafür.

Dann ist es geboten, für eine Unterbrechung zu sorgen, in der sich die Emotionen abkühlen können. Oft reichen 5 oder 10 min, manchmal ist auch eine längere Pause hilfreich. Wichtig ist der Hinweis, dass es anschließend Gelegenheit für jede:n gibt, in Ruhe die eigene Perspektive zu erläutern und gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten.

Die gewonnene Pause kann man nutzen, um in Ruhe zu reflektieren, was eigentlich passiert ist, und um eine Idee zu entwickeln, wie man dem Team jetzt am besten helfen kann. Zwei “Streithähnen” tut vielleicht ein Gespräch zu dritt gut. In den meisten anderen Fällen kann man die Retrospektive nach einer kurzen Pause gemeinsam fortsetzen. 

Die anschließende Arbeit geschieht dann offen, respektvoll, geduldig und wertschätzend. Als Scrum Master kannst du hier durch dein eigenes Verhalten ein hilfreiches Vorbild setzen.

Zuversicht und Ruhe ausstrahlen

Keine Sorge! Dein Team wird gestärkt und positiv durch diesen Konflikt finden. Wenn du das noch nicht so fühlen kannst, versuche, deine eigenen Ressourcen zu nutzen. Wann hast du selbst schon mal erlebt, wie Menschen durch gemeinsam durch eine schwierige Situation gegangen sind und gestärkt daraus hervor kamen? Was hat da gut funktioniert? Was davon kannst du auf die aktuelle Situation übertragen? 

Du darfst eine Haltung einnehmen, in der du Emotionen wertschätzt. Sie sind richtig, sie sind wirklich und verdienen es, ernst genommen zu werden, ohne dass du selbst emotional mitgehst und ebenfalls z.B. wütend wirst. 

Vielleicht ist auch eine kurze Info-Session über die Team-Building Phasen von Tuckman hilfreich. So erfährt das Team, dass es nicht dabei ist, zu zerbrechen, und es bekommt einen Hinweis auf einen Ausweg. Gerade sehr rationalen Menschen hilft es, zu verstehen, was gerade passiert. 

So eine Info-Session kann sich z.B. an eine Abkühlpause anschließen. Du teilst mit dem Team, dass sich die Retrospektive völlig anders entwickelt hat als von dir erwartet und dass du deswegen vorschlägst, etwas anderes zu tun, z.B.

  1. Was ist gerade passiert? Kurze Info zu Tuckman-Phasen
  2. Wie wollen wir in Konflikten miteinander umgehen?
  3. Aufgreifen des Themas oder klären, wann/wie damit umgegangen werden soll.

Für ein offenes, wertschätzendes Klima sorgen

Es ist sehr wichtig für das Team, zu wissen, dass Konflikte nicht unter den Teppich gekehrt werden müssen. Es ist ok und willkommen, seine eigene (vielleicht ganz andere) Perspektive zu äußern. Denn im konstruktiven Umgang mit unterschiedlichen Meinungen besteht eine der großen Stärken von erfolgreichen Teams. 

Du als Scrum Master darfst also dafür sorgen, dass sich jede:r gehört und ernst genommen fühlt. Entweder jetzt sofort, oder nach der kurzen Pause. Gerade im Konflikt hilft es enorm, ganz genau zuzuhören und das Gehörte zurück zu spiegeln mit einem „Was ich gehört habe, ist … Ist das so richtig?“ Wenn man sich gehört und verstanden fühlt, verschwindet der Wunsch, lauter zu reden. Und wenn man selbst die abweichende Meinung von jemand anderes formulieren kann, ist ein großer Schritt zu gegenseitigem Verständnis geschafft.

Dies ist eine tolle Gelegenheit, Teams den Umgang mit Konflikten vorzuleben und so soziale Kompetenz zu stärken. 

Ich selbst habe sehr gute Erfahrungen damit gemacht, zurückhaltend im Bezeichnen von Emotionen zu sein, wenn nicht die Beteiligten selbst diese Bezeichnungen verwenden. Denn es ist so leicht, hier versehentlich eine falsche Interpretation reinzubringen, gegen die sich die Beteiligten dann wehren. Statt „Es macht dich wütend, dass …“ sagst du besser „Du bist nicht einverstanden damit, dass …“ oder ähnliches. Achtung: Damit ist nicht gemeint, die Emotion klein zu reden, oder nicht ernst zu nehmen, im Gegenteil.

Nicht das Ruder an sich reißen

Wenn Emotionen auftauchen, hat man leicht das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben.Nur allzu leicht gerät man dann in die Versuchung, das Ruder an sich zu reißen und selbst Vorgaben zu machen oder Lösungen zu erarbeiten. 

Doch das ist in den allermeisten Fällen nicht hilfreich, denn man läuft als Scrum Master Gefahr, dass die Teammitglieder die Verantwortung für den Prozess oder die Lösung abgeben und nur noch das tun, was man ihnen sagt. An allem, was in der Folge passiert, ist dann der Scrum Master schuld, und das Team gelangt nicht über die Storming-Phase hinaus.

Was stattdessen funktioniert, ist der folgende Ansatz.

Gelegenheiten bieten, in die Norming-Phase zu wechseln

In der Norming-Phase bilden sich Regeln heraus, nach denen das Team miteinander arbeiten möchte. Die Teammitglieder diskutieren offen miteinander und konfrontieren einander auch mit unterschiedlichen Meinungen. Das kann auch in einem offenen Konflikt geschehen, ist aber positiv.

So erlebt das Team, wie es selbst hilfreiche und für die Mitglieder passende Regeln gestalten kann. Es übernimmt Verantwortung für die Einhaltung dieser Regeln, und dadurch verbessern sich Arbeitsatmosphäre und -ergebnisse. Dieses Erlebnis von Selbstwirksamkeit ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Performing-Phase.

Manchmal reicht ein kleiner Impuls für den Eintritt in die Norming-Phase, z.B. auf die Beschwerde eines Teammitglieds, was ihm nicht gefällt und was es schlecht findet, einfach zu reagieren mit einem „Was wünschst du dir stattdessen?“ und einem anschließenden “Was brauchen wir alle, damit wir gut miteinander arbeiten können?” 

Eine weitere Technik, die 20-80-Methode, hat mir kürzlich ein Kollege empfohlen. Darin gibt man allem Negativen, den Problemen, Unmöglichkeiten, etc. Raum. Und zwar 20% der verbleibenden Zeit (oder wenn das früher passiert: bis keinem mehr etwas einfällt). Anschließend nutzt man die restlichen 80% für einen gemeinsamen Schritt vorwärts, für eine Lösung. Die 20-80-Methode funktioniert besonders gut, wenn das Team stark auf Probleme von außen fokussiert ist. 

Fazit

Natürlich gibt es viele Gründe für heftige Emotionen in einer Retrospektive, aber der unvermeidliche Eintritt eines Teams in die Storming-Phase ist in meiner Erfahrung die häufigste dahinter stehende Ursache. Das ist ein gutes Zeichen, denn dein Team entwickelt sich gerade weiter. Nimm die großartige Chance wahr, sie dabei zu begleiten und zu unterstützen.

Und nun interessieren mich deine Erfahrungen? Welche heftigen Emotionen hast du schon in einer Retrospektive erlebt? Was waren die Gründe? An welche Tipps haltet ihr euch in solchen Situationen? Was funktioniert gut, was weniger?

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