Menschen, die sich die Haare raufen

Die Team-Schmerz-Matrix

Wäre es nicht ideal, wenn immer alles nach Plan liefe und wir stets zufrieden wären? Natürlich, aber das ist leider eher unrealistisch.

Gerade auf der Arbeit gibt es viele aufeinandertreffende Bedürfnisse – von den Akteuren und der Umgebung, die klare Grenzen, stete Veränderung und oft zeitlichen Druck mit sich bringt. Bei Überlast verliert ein Team schon mal den Zusammenhalt. Jedes Teammitglied hat seine ganz eigenen Probleme, mit denen es kämpft. Hinzu kommen Belastungen, die das ganze Team betreffen. Frustration breitet sich aus und die Situation droht in Ohnmacht zu münden.

In solch einer Situation entwickelte ich eine Methode, die sich schon oft bewährt hat. Auch dann, wenn die Lage noch gar nicht ernst ist. Ich nenne sie die Team-Schmerz-Matrix. Diese Methode schafft Klarheit und hilft dem Team, sich aus dem Sumpf zu befreien. In diesem Beitrag möchte ich euch zeigen, wie auch ihr sie in schwierigen Situationen für euch nutzen könnt.

Die Team-Mitglieder melden zurück: Ich will hier nur noch weg

Vor ein paar Jahren kam mein Bereichsleiter auf mich zu. Die Führungskraft aus dem benachbarten Team hatte gekündigt. Schon seit Monaten erlebte das Team eine schwierige Zeit. Ich kannte die Situation aus diversen Meetings. Mein Bereichsleiter fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, das Team zu übernehmen. Ich empfand die Aufgabe als attraktiv und als eine Chance darin zu wachsen. Zeitgleich konnte ich meinem Projektumfeld eine Hilfe sein. Also eine klassische Win-Win-Situation. Ich sagte zu!

Schon kurz darauf lud ich jede Person aus dem neuen Team ein. Ich wollte, dass wir uns alle kennenlernten, „den Puls fühlen”, wissen, wie sich jede einzelne Person fühlt.

Wichtig war mir, neben der individuellen Einschätzung auch eine Einschätzung zur Situation des Teams zu erhalten. Über etwa zwei Wochen führte ich Gespräche mit allen Teammitgliedern. Das Resultat zog mir den Boden unter den Füßen weg.

Von etwa fünfzehn Personen empfand nur eine einzige die Zeit als turbulent. Alle anderen wollten das Team so schnell wie nur möglich verlassen, frustriert wie sie waren. Die Wörter „Wechsel” und „Kündigung” waren omnipräsent.

Es gab eine Reihe unerfüllter persönlicher Bedürfnisse wie Wertschätzung, Karrierewünsche, Weiterentwicklung, Arbeitszeitflexibilität, usw., gefolgt von Problemen, die das gesamte Team betrafen wie beispielsweise Prozesse, Team Setup, Zeitmanagement, Informationsaustausch, Arbeitsorganisation oder Defizite in der Weiterbildung.
Diese ungelösten Probleme häuften sich. Die Belastungen nahmen über die Zeit stetig zu und minderten die Attraktivität des Arbeitsplatzes für die Kollegen erheblich.

Ich schrieb fleißig mit und bat um nicht weniger als eine Chance.

Der Befreiungsschlag: Alles auf den Tisch

Die folgende Woche erstellte ich Listen. Zu jeder Person hatte ich ihre individuellen Schmerzpunkte aufgeschrieben. Zusätzlich gab es eine Liste von Leiden, die das gesamte Team betrafen. Es gab gehäuft auftretende Nennungen und teilweise auch Widersprüche.

Mir war bewusst, dass ein Ausweg aus der Situation nur von den Menschen erarbeitet werden konnte, die in diesem Umfeld arbeiteten und in diesem erfahren waren. Die Lösung lag im Team und nicht bei mir.

Ich schlug meinem Team vor, Persönliches mit mir im Einzelgespräch zu besprechen und anzugehen. Probleme, die das Team und deren Arbeit betrafen, sollten in der Gruppe geteilt und gemeinsam besprochen werden. Das Team stimmte zu.

Über Stunden teilten alle ihre Arbeitsbelastungen mit. Jeder Schmerz wurde aufgeschrieben und auf einem Board für alle sichtbar platziert. Es entstand ein reger, facettenreicher Austausch von Überraschungen über wilden Diskurs bis zu voller Übereinstimmung.

Wie wir aus dem Chaos der Probleme in die Ordnung kamen

Doch genau dieser Schritt stellte bereits einen ersten Erfolg dar. Wir hatten alle Themen, die uns belasteten, mitgeteilt und besprochen. Zum ersten Mal hatte das gesamte Team eine klare Sicht darauf, was alles im Argen lag. Das war nicht weniger belastend, aber es sorgte für Verständnis und ein besonderes Gemeinschaftsgefühl.
Nun fanden wir uns aber in der Situation wieder, dass unser Wissen uns in Bezug auf die Lösung des Problems kein Stück weiterbrachte. Es gab Themen, die auf mehrere Teammitglieder zutrafen, aber auch Themen, die nur eine einzelne Person betrafen.
Noch komplexer wurde die Situation, weil die Themen verschiedene Stufen von Wichtigkeit innehatten, aber auch verschiedene Stufen von Dringlichkeit. Es war ein Chaos an Problemen, die scheinbar alle irgendwie aufeinander wirkten und es war kein Anfang oder Ende in Sicht.

Wie sollten wir all diese Probleme angehen? Welchen Schmerz zuerst lösen?

Ich war in Sorge, weil ich meine Kollegen auf eine unbekannte Reise geschickt hatte. Ich wollte die Schmerzen verstehen, die Probleme sehen. Und jetzt? Mir war bewusst, dass die ganze Transparenz nichts bewirkt, wenn ich mit der gewonnenen Information nicht weiterarbeitete. Wo anfangen im Chaos? Die Herausforderung lag darin, die Probleme in eine Ordnung zu bringen. Eine Reihenfolge musste her. Doch wie bildet man eine Reihenfolge, wenn die Bewertung der Elemente multidimensional ist? Ich dachte an Listen und begann mit ersten Versuchen in Excel, aber es fühlte sich unpassend an. Ich suchte nach etwas Visuellem, so dass es mit dem Team gut zu kommunizieren, konsumieren und zu bearbeiten war. 

Problemdimensionen und die Eisenhower-Matrix

Multidimensional war das Wort, das mich an einen dreidimensionalen Raum erinnerte. Aber eine dreidimensionale Abbildung für eine Reihenfolge? Nein. Ich stellte mir die Frage, welche Dimensionen ich denn hatte. Ich kam auf die Folgenden: Anzahl betroffener Personen (hoch/niedrig), Wichtigkeit, Aufwand, Zeitdruck. Ich durchsuchte das Internet nach diesen Schlagworten und fand u.a. die Eisenhower-Matrix.

Der ehemalige US-Präsident hatte angeblich ein Prinzip, indem er seine Probleme in wichtig und nicht wichtig sowie dringend und nicht dringend einsortierte, um sie dann entsprechend zu bearbeiten. Verglichen mit meinen Dimensionen wurde mir bewusst, dass Aufwand in Relation zur Dringlichkeit stand. Des Weiteren spielt es eine untergeordnete Rolle, ob es eine Person oder viele betrifft. Es kommt vielmehr darauf an, welche Folgen ein Problem oder Schmerz nach sich zieht, wenn es nicht zeitlich angemessen bearbeitet wird. Die Bedeutung jedes Problems wird durch die potenziellen Auswirkungen gewichtet. Das klingt erstmal komplex, ist aber im Gruppengespräch gut zu erfassen. Es geht in der Abwägung potentieller Schäden nicht um Genauigkeit, eine grobe Vorstellung genügt. Der Gewinn liegt im simplen Vergleich mit den anderen potentiellen Schäden.

Erfolgsdurchbruch mit der Team-Schmerz-Matrix

Wir saßen wieder im Team zusammen. Ziel war es, die zuvor gesammelten Schmerzen nun in eine Matrix einzuordnen. Ich habe die Eisenhower-Matrix für unser Team etwas abgewandelt. Es hatte für mich intuitiv mehr Sinn ergeben, dass das Minimum links und unten liegt und das Maximum rechts und oben. Auf der X-Achse befand sich die Dringlichkeit und auf der Y-Achse die Wichtigkeit. 

grafische Darstellung der Schmerz-Matrix
Abbildung: Die Team-Schmerz-Matrix von Leiv Braun.

Wir ordneten jeden Schmerz – ob produkt-, kunden-, mitarbeiter-, oder teambezogen – basierend auf seiner Auswirkung in die Matrix ein.

Das mag sehr einfach klingen, doch in der Praxis ist es das nicht immer. Wir hatten teils zehrende Diskussionen.
Der große Wert beim Ausfüllen der Team-Schmerz-Matrix liegt aber in der Bewertung durch das Team. Jeder kann zu jeder Zeit seine Perspektive einbringen. Somit werden, durch die Relativierung des Teams, einzelne Ausreißer eingefangen. Das Resultat ist eine Einordnung, hinter der alle Beteiligten stehen.
Eine Einordnung… wir hatten eine Ordnung!

Schmerzen abbauen auf Basis der Matrix

Mit der Erkenntnis, welche Themen höchste Priorität hatten, konnten wir uns der Reihe nach jedem zuwenden. Es gab keine Diskussionen mehr. Die Fakten lagen eindeutig vor uns in der Matrix. Die Schmerzthemen hatten im Alltag höchste Priorität. Wir haben sie in unsere normale Planung der Arbeitsaufgaben integriert. Mit dem feinen Unterschied, dass sie sehr hohe Priorität genossen.

Zu Beginn war es notwendig, das Vorgehen im Projektumfeld zu verteidigen. Es gab Zweifel. Verständlich, wenn Druck im Projekt ist und Teammitglieder überraschenderweise an anderen Themen arbeiten, womöglich noch an Themen, die auf den ersten Blick gar nichts mit dem Projekt zu tun haben. Der Zweifel verlor sich aber nach wenigen Wochen. Grund war die bessere Stimmung, die höhere Motivation und die deutlich verbesserte Abarbeitung von Aufgaben. Davon profitierte das gesamte Projektteam. Wenige Monate später feierte das Team zum ersten Mal in der Produktgeschichte den maximalen Wert der Kundenzufriedenheit. Einen Net-Promoter-Score von 100. Wir hatten uns nicht nur selbst aus dem Sumpf gezogen, sondern auch eine neue Rekordmarke erreicht.

Heutiger Einsatz der Team-Schmerz-Matrix

Die Team-Schmerz-Matrix habe ich seither oft im Zuge eines Workshops eingesetzt. Ein Workshop hat Sinn, denn die Team-Schmerz-Matrix ist mehr als nur ein Diagramm. Es ist ein Prozess! Die Vorstufe ist eine Stillarbeit, in der alle ihre eigenen Schmerzen identifizieren. Mit der anschließenden Vorstellung und Besprechung im Team wird diese transparent. Erst dann folgen die Besprechung und Einordnung durch das Team in die Matrix. Je nach Teamgröße nimmt der Prozess schnell mehrere Stunden oder vielleicht sogar mehr als einen Tag ein.

In extremen Situationen hat sich die Team-Schmerz-Matrix bewährt. Ich verwende sie aber auch im kleineren sowie im persönlichen Kontext. Es hat großes Potential, befreit von Blockaden sowie Frustration zu sein und klare Prioritäten zu haben. Dieses Potential ist sowohl erstrebenswert für Teams als auch für Einzelpersonen.

Jetzt Schmerzen lösen, erst recht in Extremsituationen

Wenn du die Team-Schmerz-Matrix mit deinem Team ausprobieren möchtest, hier noch ein paar Tipps: Der Prozess ist vergleichsweise einfach in seinen Schritten. Besprich mit dem Team das Vorgehen, nehmt euch ausreichend Zeit. Das Ergebnis ist eine Priorisierung. Anhand dieser Reihenfolge könnt ihr schließlich die Themen angehen. Als Belohnung winken Entlastung und steigende Motivation.

Ich drücke euch die Daumen!

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